Der Untergang des Abendlandes
Altertum – Mittelalter – Neuzeit anhielt und man nur das scheinbar Dauernde, nicht das tatsächlich sich Verändernde bemerkte. Inzwischen ist unser Blick anders geworden, kühler und weiter, und unser Wissen hat die Grenzen dieses Schemas längst überschritten. Wer heute noch so sieht, steht auf der falschen Seite. Nicht das Geschaffene »wirkt ein«, sondern das Schaffende »nimmt an«. Man verwechselt Dasein und Wachsein, das Leben mit den Mitteln, durch die es sich zum Ausdruck bringt. Das theoretische Denken, selbst bloßes Wachsein, sieht überall theoretische Einheiten in Bewegung begriffen. Das ist echt faustisch-dynamisch. In keiner andern Kultur haben die Menschen sich Geschichte so vorgestellt. Ein Grieche mit seinem durchaus körperhaften Verstehen der Welt würde nie bloße Ausdruckseinheiten wie »das attische Drama« oder »die ägyptische Kunst« in ihren »Wirkungen« verfolgt haben.
Das erste ist, daß man ein
System von Ausdrucksformen
mit einem Namen bezeichnet. Damit hebt sich ein Komplex von Beziehungen vor dem Auge ab. Es dauert nicht lange, und man denkt sich unter dem Namen ein Wesen und unter der Beziehung eine Wirkung. Wer heute von der griechischen Philosophie, dem Buddhismus, der Scholastik spricht, meint irgendwie etwas Lebendiges, eine Krafteinheit, die herangewachsen und mächtig geworden ist und nun von den Menschen Besitz ergreift, ihr Wachsein und sogar ihr Dasein sich unterwirft und sie zuletzt zwingt, in der Lebensrichtung dieses Wesens weiterzuwirken. Das ist eine vollkommene Mythologie, und es ist bezeichnend, daß nur Menschen der abendländischen Kultur, deren Mythos noch mehr Dämonen von dieser Art kennt – »die« Elektrizität, »die« Energie der Lage –, in und mit diesem Bilde leben.
In Wirklichkeit sind diese Systeme nur
im menschlichen Wachsein
vorhanden, und zwar als Tätigkeitsarten. Religion, Wissenschaft, Kunst sind
Tätigkeiten des Wachseins,
denen ein Dasein zugrunde liegt. Glauben, Nachdenken, Gestalten und alles, was an sichtbarer Tätigkeit durch diese unsichtbaren gefordert wird, Opfern, Beten, das physikalische Experiment, die Arbeit an einer Statue, die Fassung einer Erfahrung in mitteilbare Worte sind Tätigkeiten des Wachseins und nichts anderes. Die übrigen Menschen sehen davon nur das Sichtbare und hören nur die Worte. Sie erleben dabei etwas in sich selbst, über dessen Verhältnis zu dem, was der Schöpfer in sich selbst erlebt hatte, sie sich keine Rechenschaft geben können. Wir sehen eine Form, aber wir wissen nicht, was in der Seele des andern sie erzeugt hat. Wir können darüber nur etwas glauben und wir glauben es, indem wir unsre eigene Seele hineinlegen. Mag eine Religion in noch so deutlichen Worten sich verkünden, es sind Worte, und der Hörer trägt seinen Sinn hinein. Mag ein Künstler in seinen Tönen und Farben noch so eindringlich wirken, der Betrachter sieht und hört in ihnen nur sich selbst. Kann er das nicht, so ist das Werk für ihn bedeutungslos. Die äußerst seltene und ganz moderne Gabe einiger extrem historischer Menschen, sich »in die andern hineinzuversetzen«, kommt hier nicht in Frage. Ein Germane, den Bonifatius bekehrt, versetzt sich in den Geist des Missionars hinein. Jenes frühlinghafte Aufschauern, das damals durch die ganze junge Welt des Nordens ging, bedeutete nichts anderes, als daß jeder für seine eigne Religiosität durch die Bekehrung plötzlich eine Sprache fand. Die Augen eines Kindes leuchten auf, wenn man ihm zu einem Gegenstand, den es in der Hand hält, den Namen nennt. So war es auch hier.
Nicht die mikrokosmischen Einheiten also wandern, sondern die kosmischen Einheiten wählen sie aus und eignen sie sich an. Wäre es anders, wären diese Systeme wirkliche Wesen, die eine Tätigkeit ausüben können – denn »Einfluß« ist eine organische Tätigkeit –, so wäre das Bild der Geschichte ein vollkommen anderes. Man sollte doch die Blicke darauf lenken, daß jeder heranwachsende Mensch und jede lebendige Kultur beständig ungezählte Tausende von möglichen Einflüssen um sich hat, von denen ganz wenige als solche
zugelassen
werden, die große Mehrzahl aber nicht. Sind es die Werke oder die Menschen, welche die Auswahl treffen?
Der auf Kausalreihen erpichte Historiker zählt nur die Einflüsse, die vorhanden sind; es fehlt die Gegenrechnung. Zur Psychologie der positiven gehört die der »negativen« Einwirkungen. Gerade das wäre eine äußerst aufschlußreiche und die ganze Frage
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