Der Untergang des Abendlandes
Dieser Kampf ebenbürtiger Gegner ist nie beendet worden und steht uns heute noch im Eherecht, in dem Gegensatz von kirchlicher und ziviler Trauung vor Augen.
Mit dem Anbruch des Barock erhebt das Leben, das städtische und geldwirtschaftliche Formen angenommen hat, die Forderung nach einem Recht, wie es die antiken Stadtstaaten seit Solon gaben. Man versteht jetzt den Zweck des geltenden Rechts, aber an dem verhängnisvollen Erbe der Gotik, daß ein Gelehrtenstand die Schöpfung des »Rechtes, das mit uns geboren ist«, als sein Privilegium betrachtet, vermochte niemand etwas zu ändern.
Der städtische Rationalismus wendet sich wie in der sophistischen und stoischen Philosophie dem Naturrecht zu, von seiner Begründung durch Oldendorp und Bodinus bis zu seiner Zerstörung durch Hegel. In England hat sein größter Jurist, Coke, das germanische, sich in der Praxis fortbildende Recht gegen den letzten Versuch verteidigt, den die Tudors zur Einführung des Pandektenrechts machten. Auf dem Festlande aber entwickelten sich die gelehrten Systeme in
römischen
Formen bis zu den deutschen Landrechten und den Entwürfen des
ancien régime
, auf die Napoleon sich stützte. Und so ist Blackstones Kommentar zu den
Laws of England
(1765) der
einzige rein germanische Kodex
an der Schwelle der abendländischen Zivilisation.
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Hiermit bin ich am Ziel und ich blicke um mich. Drei Rechtsgeschichten liegen vor dem Auge, verknüpft nur durch die Elemente der sprachlichen und syntaktischen Form, welche die eine von der andern nahm oder nehmen mußte, ohne durch deren Gebrauch das fremde Dasein, das ihnen zugrunde lag, auch nur zu Gesicht zu bekommen. Zwei von ihnen sind vollendet. In der dritten stehen wir selbst, und zwar an der entscheidenden Stelle, wo die aufbauende Arbeit großen Stils erst beginnt, welche dort ausschließlich den Römern und dem Islam zugefallen ist.
Was war uns bis jetzt das römische Recht? Was hat es verdorben? Was kann es uns in Zukunft sein?
Durch unsere Rechtsgeschichte geht als Grundmotiv der Kampf zwischen Buch und Leben. Das abendländische Buch ist nicht Orakel und Zaubertext mit magischem Geheimsinn, sondern
ein Stück aufbewahrter Geschichte
. Es ist gedrängte Vergangenheit, die Zukunft werden will, und zwar durch uns, die Leser, in denen sein Inhalt wieder auflebt. Der faustische Mensch will nicht wie der antike sein Leben als etwas in sich Geschlossenes vollenden, sondern ein Leben fortsetzen, das weit vor ihm anhob und lange nach ihm zu Ende geht. Für den gotischen Menschen, insofern er über sich nachsann, stand es nicht in Frage, ob, sondern wo er sein Dasein historisch anknüpfen sollte. Er brauchte eine Vergangenheit, um der Gegenwart Sinn und Tiefe zu geben. Wie vor dem geistlichen Blick das alte Israel, so tauchte vor dem weltlichen das alte Rom auf, dessen Trümmer man allenthalben sah. Man verehrte es, nicht weil es groß, sondern weil es alt und fern war. Hätten diese Menschen Ägypten gekannt, sie würden Rom kaum beachtet haben. Die Sprache unserer Kultur wäre anders geworden.
Da sie eine Bücher- und Leserkultur war, so ist überall, wo es noch antike Schriften gab, eine »Rezeption« eingetreten, und die Entwicklung nahm die Form einer langsamen und widerwilligen Befreiung an. Rezeption des Aristoteles, des Euklid, des
Corpus juris
heißt – im magischen Osten bedeutet sie etwas anderes – ein Gefäß für die eignen Gedanken fertig und viel zu früh entdecken. Aber damit wird ein historisch veranlagter Mensch der Sklave von Begriffen. Nicht daß ein fremdes Lebensgefühl in sein Denken kommt, denn es kommt nicht hinein, aber es hindert sein eignes Lebensgefühl daran, eine unbefangene Sprache zu entwickeln.
Nun ist das Rechtsdenken gezwungen, sich auf etwas Greifbares zu beziehen. Rechtsbegriffe müssen von irgend etwas abgezogen werden. Und da liegt das Verhängnis: statt sie aus der starken und strengen Sitte des sozialen und wirtschaftlichen Daseins zu gewinnen, wurden sie vorzeitig und zu schnell aus lateinischen Schriften abstrahiert. Der abendländische Jurist wird Philologe, und an die Stelle praktischer Lebenserfahrung tritt eine gelehrte Erfahrung von der rein logischen Zerlegung und Verknüpfung der Rechtsbegriffe, die ausschließlich in sich selbst begründet wird.
Darüber ist uns eine Tatsache vollständig abhanden gekommen, daß nämlich
das Privatrecht den Geist des jeweiligen sozialen und wirtschaftlichen Daseins darstellen soll
. Weder der
Code
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