Der Untergang des Abendlandes
dasselbe sind. Ist ein
consensus
erzielt, so steht die Wahrheit fest.
»Idjma«
ist der Sinn aller frühchristlichen, jüdischen und persischen Konzile. Es ist aber auch der Sinn des berühmten Zitiergesetzes Valentinians III. von 426, das unter völliger Verkennung seiner geistigen Grundlagen die allgemeine Verachtung der Rechtsforscher gefunden hat. Das Gesetz schränkt die Zahl der großen Juristen, deren Text zitiert werden darf, auf fünf ein. Damit ist ein Kanon im Sinne des Neuen und Alten Testaments geschaffen, die beide ebenfalls die Summe der Texte enthalten, die als kanonisch zitiert werden dürfen. Bei Meinungsverschiedenheit entscheidet die Stimmenmehrheit, bei Stimmengleichheit Papinian. [R. v. Mayr IV, 45 f.] Aus derselben Anschauung ist auch die Methode der Interpolationen hervorgegangen, die Tribonian in großem Stil beim Digestenwerk Justinians angewendet hat. Ein kanonischer Text ist der Idee nach zeitlos wahr und also nicht verbesserungsfähig. Die tatsächlichen Bedürfnisse des Geistes aber ändern sich. Es entsteht daher eine Technik der geheimen Abänderungen, welche die Fiktion der Unveränderlichkeit nach außen wahrt und die an allen religiösen Schriften der arabischen Welt, auch denen der Bibel, reichlich geübt worden ist.
Nach Marc Antonius ist Justinian die verhängnisvollste Persönlichkeit der arabischen Geschichte. Wie sein »Zeitgenosse« Karl V. hat er alles verdorben, wozu er berufen war. Wie im Abendlande der faustische Traum von einer Auferstehung des Heiligen Römischen Reiches durch alle politische Romantik zog und noch über Napoleon und die fürstlichen Narren von 1848 hinaus den Tatsachensinn verdunkelte, so war Justinian von der Donquijoterie der Wiedereroberung des gesamten Imperiums besessen. Statt auf
seine
Welt, den Osten, hat er den Blick stets auf das ferne Rom gelenkt. Schon vor seiner Thronbesteigung hat er mit dem römischen Papst verhandelt, der damals unter den großen Patriarchen der Christenheit noch nicht einmal als
primus inter pares
allgemein anerkannt wurde. Das dyophysitische Symbol von Chalcedon wurde auf dessen Verlangen eingeführt – und damit gingen die monophysitischen Landschaften für immer verloren. Die Folge von Actium war, daß die Ausbildung des Christentums in den entscheidenden ersten zwei Jahrhunderten nach Westen, auf antikes Gebiet herüber gezogen wurde, wo die geistige Oberschicht sich von ihr ausschloß. Dann hatte der urchristliche Geist sich in Monophysiten und Nestorianern wieder aufgerichtet. Justinian stieß ihn zurück und beschwor dadurch den Islam
als neue Religion
und nicht als puritanische Strömung innerhalb des morgenländischen Christentums herauf. Und ebenso hat er in dem Augenblick, wo die östlichen Gewohnheitsrechte für eine Kodifikation reif geworden waren, einen lateinischen Kodex geschaffen, der im Osten aus sprachlichen und im Westen aus politischen Gründen dazu verurteilt war, Literatur zu bleiben.
Das Werk selbst ist wie die ihm entsprechenden des Drakon und Solon an der Grenze der Spätzeit und in politischer Absicht entstanden. Im Westen, wo die Fiktion der Fortdauer des
Imperium Romanum
die völlig sinnlosen Feldzüge des Belisar und Narses veranlaßt hatte, waren um 500 von den Westgoten, Burgundern und Ostgoten lateinische Gesetzbücher für die unterworfenen »Römer« zusammengestellt worden. Dem mußte von Byzanz aus ein eigentlich römisches Gesetzbuch entgegengestellt werden. Im Osten hatte die jüdische Nation ihren Kodex, den Talmud, eben abgeschlossen; bei der ungeheuren Zahl derer, die im byzantinischen Reiche unter seinem Recht standen, wurde ein Gesetzbuch für die eigne Nation des Kaisers, die christliche, zur Notwendigkeit.
Denn das in seiner Abfassung überstürzte und technisch mangelhafte
Corpus juris
ist trotz allem eine arabische und also eine
religiöse
Schöpfung; das beweisen die christliche Tendenz vieler Interpolationen, [Wenger, S. 180.] die auf das Kirchenrecht bezüglichen Konstitutionen, die im Theodosianischen Kodex noch am Schluß, hier aber am Anfang stehen, und sehr nachdrücklich die Vorreden zu vielen seiner Novellen. Trotzdem ist das Buch kein Anfang, sondern ein Ende. Das längst wertlos gewordene Latein verschwindet jetzt völlig aus dem Rechtsleben – schon die Novellen sind meist griechisch geschrieben – und mit ihm das törichterweise darin abgefaßte Werk. Die Rechtsgeschichte aber setzt den Weg fort, den das syrisch-römische Rechtsbuch gewiesen hatte, und
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