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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Mauer« beim Ptahtempel im späteren Memphis, aber die Residenzen der Pharaonen wechseln unaufhörlich wie im sumerischen Babylonien und im Karolingerreich. [Ed. Meyer, Gesch. d. Altertums I, S. 188. ] Die frühchinesischen Herrscher der Dschou-Dynastie haben seit 1109 ihre Pfalz in der Regel zu Loh-yang (heute Ho-nan-fu), aber erst seit 770, was unserem 16. Jahrhundert entspricht, wird der Ort zur dauernden Residenzstadt erhoben. Nirgends hat sich das Gefühl der Erdverbundenheit, des Pflanzenhaft-Kosmischen so mächtig ausgesprochen wie in der Architektur dieser winzigen frühen Städte, die kaum mehr sind als ein paar Straßen um einen Markt, eine Burg oder ein Heiligtum. Wenn es irgendwo deutlich wird, daß jeder große Stil selbst eine Pflanze ist, so hier. Die dorische Säule, die ägyptische Pyramide, der gotische Dom
wachsen
streng, schicksalhaft, ein Dasein ohne Wachsein aus dem Boden; die ionische Säule und die Bauten des Mittleren Reiches und des Barock ruhen voll erwacht, selbstbewußt, frei und sicher auf ihm. Da ist, von den Mächten der Landschaft abgetrennt, durch das Pflaster unter den Füßen gleichsam abgeschnitten, das Dasein matter, das Empfinden und Verstehen immer mächtiger geworden. Der Mensch wird »Geist«, »frei« und dem Nomaden wieder ähnlicher, aber enger und kälter.
»Geist« ist die spezifisch städtische Form des verstehenden Wachseins
. Alle Kunst, alle Religion und Wissenschaft wird langsam geistig, dem Lande fremd, dem erdhaften Bauern unverständlich. Mit der Zivilisation tritt das Klimakterium ein. Die uralten Wurzeln des Daseins sind verdorrt in den Steinmassen ihrer Städte. Der freie Geist – ein verhängnisvolles Wort! erscheint wie eine Flamme, die prachtvoll aufsteigt und jäh in der Luft verlodert.
3
    Die neue Seele der Stadt redet eine neue Sprache, die sehr bald mit der Sprache der Kultur überhaupt gleichbedeutend wird. Das freie Land mit seinen dörflichen Menschen ist betroffen; es versteht diese Sprache nicht mehr; es wird verlegen und verstummt. Alle echte Stilgeschichte spielt sich in Städten ab. Es ist ausschließlich das Schicksal der Stadt und das Erleben städtischer Menschen, das in der Logik sichtbarer Formen zum Auge redet. Die allerfrüheste Gotik wuchs noch aus der Landschaft auf und ergriff das Bauernhaus mit seinen Bewohnern und Geräten. Aber der Renaissancestil wächst nur in der Renaissance
stadt
, der Barockstil nur in der Barock
stadt
, von der ganz großstädtischen korinthischen Säule, vom Rokoko nicht zu reden. Es geht vielleicht noch ein leiser Zug von dort über die Landschaft hin, aber das Land selbst ist nicht der kleinsten Schöpfung mehr fähig. Es schweigt und wendet sich ab. Der Bauer und das Bauernhaus sind in allem Wesentlichen gotisch geblieben und sind es noch heute. Das hellenische
Land
hat den geometrischen, das ägyptische Dorf den Stil des Alten Reiches bewahrt.
    Vor allen Dingen ist es »das Gesicht« der Stadt, dessen Ausdruck eine Geschichte besitzt, dessen Mienenspiel beinahe die Seelengeschichte der Kultur selbst ist. Da sind es erst die kleinen Urstädte der Gotik und aller anderen Frühkulturen, [Gemeint ist die Frühzeit einer Kultur. Mit Frühkultur hat Spengler später die den hohen Kulturen seelisch vorausgehende Stufe bezeichnet, vgl. S. 593, Anm. 1.] die sich fast in der Landschaft verlieren, echte Bauernhäuser noch, die im Schatten einer Burg oder eines Heiligtums sich aneinander drängen und ohne Veränderung der inneren Form Stadthäuser werden, nur weil sie nicht aus der Umgebung von Feldern und Wiesen, sondern von Nachbarhäusern hervorwachsen. Die Völker der Frühkultur sind allmählich Stadtvölker geworden, und es gibt also ein spezifisch chinesisches, indisches, apollinisches, faustisches Stadtbild und wieder eine armenische oder syrische, eine ionische oder etruskische, deutsche, französische oder englische Physiognomie der Stadt. Es gibt eine Stadt des Phidias, eine Stadt Rembrandts, eine Stadt Luthers. Diese Bezeichnungen und die bloßen Namen Granada, Venedig, Nürnberg zaubern sofort ein festes Bild herauf, denn alles, was eine Kultur hervorbringt an Religion, Kunst und Wissen, ist in solchen Städten entstanden. Die Kreuzzüge entsprangen noch aus dem Geist der Ritterburgen und ländlichen Klöster, die Reformation ist städtisch und gehört zu schmalen Gassen und steilen Dächern. Das große Epos, das vom Blute redet und singt, gehört zur Pfalz und Burg, aber das Drama, in dem

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