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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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der islamischen Zeit. Alles dieses kann für eine messende und wägende Wissenschaft nicht erreichbar sein. Es ist für das Fühlen mit untrüglicher Gewißheit und auf den ersten Blick da, aber nicht für die gelehrte Betrachtung. Ich komme also zu dem Schluß, daß Rasse ebenso wie Zeit und Schicksal etwas ist, etwas für alle Lebensfragen ganz Entscheidendes, wovon jeder Mensch klar und deutlich weiß, solange er nicht den Versuch macht, es durch verstandesmäßige und also entseelende Zergliederung und Ordnung begreifen zu wollen. Rasse, Zeit und Schicksal gehören zusammen. In dem Augenblick, wo das wissenschaftliche Denken sich ihnen nähert, erhält das Wort Zeit die Bedeutung von Dimension, das Wort Schicksal die von Kausalverkettung; und Rasse, wofür wir eben noch ein sehr sicheres Gefühl besaßen, wird zu einem unübersehbaren Wirrwarr ganz verschiedener und verschiedenartiger Merkmale, die nach Landschaften, Zeiten, Kulturen, Stämmen regellos durcheinanderlaufen. Einige klammern sich dauernd und zäh an einen Stamm und lassen sich forttragen, andere gleiten wie Wolkenschatten über eine Bevölkerung dahin und manche sind wie Dämonen des Landes, die von jedem Besitz ergreifen, solange er sich dort aufhält. Einige schließen sich aus und andere suchen sich. Eine feste Einteilung der Rassen, der Ehrgeiz aller Völkerkunde, ist unmöglich. Der bloße Versuch widerspricht schon dem Wesen des Rassemäßigen, und jeder überhaupt denkbare systematische Entwurf ist eine unvermeidliche Fälschung und Verkennung dessen, worauf es ankommt. Rasse ist, im Gegensatz zu Sprache, durch und durch unsystematisch. Zuletzt hat jeder einzelne Mensch und jeder Augenblick seines Daseins seine eigene Rasse. Deshalb ist das einzige Mittel, der totemistischen Lebensseite nahe zu kommen, nicht die Einteilung, sondern der physiognomische Takt.
10
    Wer in das Wesen der Sprache eindringen will, der lasse alle gelehrten Wortuntersuchungen beiseite und beobachte, wie ein Jäger mit seinem Hunde spricht. Der Hund folgt dem ausgestreckten Finger; er horcht angespannt auf die Wortklänge und schüttelt dann den Kopf; er versteht diese Art Menschensprache nicht. Dann macht er ein paar Sätze, um
seine
Auffassung anzudeuten, bleibt stehen und bellt: das ist ein Satz in seiner Sprache, der die Frage enthält, ob der Herr etwa dies gemeint hat. Dann folgt, ebenfalls in einer Hundesprache ausgedrückt, die Freude, wenn er begreift, daß er recht hatte. Genau so versuchen sich zwei Menschen zu verständigen, die keine einzige Wortsprache wirklich gemein haben. Wenn ein Landpfarrer einer Bäuerin etwas erklärt, so sieht er sie scharf an und unwillkürlich legt er alles in seine Gebärde, was sie in der kirchlichen Ausdrucksweise ja doch nicht verstehen würde. Die heutigen Wortsprachen können sämtlich nur in Verbindung mit anderen Spracharten zur Verständigung führen. Für sich allein sind sie nie und nirgends in Gebrauch gewesen.
    Wenn der Hund nun etwas will, so wedelt er mit dem Schwanze, ungeduldig, daß der Herr so töricht ist, diese sehr deutliche und ausdrucksreiche Sprache nicht zu verstehen. Er ergänzt sie durch eine Lautsprache – er bellt – endlich durch eine Gebärdensprache – er macht etwas vor. Hier ist der Mensch der Dummkopf, welcher noch nicht sprechen gelernt hat.
    Endlich geschieht etwas sehr Merkwürdiges. Wenn der Hund alles erschöpft hat, um die verschiedenen Sprachen seines Herrn zu begreifen, stellt er sich plötzlich vor ihn hin und sein Blick bohrt sich in das Auge des andern. Hier geht etwas sehr Geheimnisvolles vor sich: das Ich und Du treten unmittelbar in Fühlung. Der »Blick« befreit von den Schranken des Wachseins. Das Dasein versteht sich ohne Zeichen. Hier wird der Hund zum Menschenkenner, der den Gegner scharf ins Auge faßt und damit hinter dem Sprechen den Sprechenden begreift.
    Diese Sprachen reden wir heute noch sämtlich, ohne es zu wissen. Das Kind spricht lange bevor es das erste Wort gelernt hat, und die Erwachsenen sprechen mit ihm, ohne irgendwie an die gewohnte Wortbedeutung zu denken; das heißt, die Lautgebilde dienen hier einer ganz anderen als der Wortsprache. Auch diese Sprachen haben ihre Gruppen und Dialekte; sie können gelernt, beherrscht und mißverstanden werden; sie sind für uns so unentbehrlich, daß die Wortsprache den Dienst versagen würde, wenn wir je den Versuch machten, sie für sich allein, ohne Ergänzung durch Ton- und Gebärdensprachen anzuwenden. Selbst

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