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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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großen Sprachgruppen. Eine Ausdruckssprache betrachtet den andern als Zeugen und erstrebt nur einen
Eindruck
auf ihn; eine Mitteilungssprache betrachtet ihn als Mitredner und erwartet eine
Antwort. Verstehen
heißt, Eindrücke mit dem eigenen Bedeutungsgefühl empfangen; hierauf beruht die Wirkung der höchsten menschlichen Ausdruckssprache, der Kunst. [Die Kunst ist unter Tieren vollkommen ausgebildet. Soweit sie dem Menschen durch Analogie zugänglich ist, besteht sie in rhythmischer Bewegung (»Tanz«) und Lautbildung (»Gesang«). Damit ist aber der künstlerische Eindruck auf die Tiere selbst bei weitem nicht erschöpft.]
Sich verständigen,
Zwiesprache halten bedeutet, im andern das gleiche Bedeutungsgefühl voraussetzen. Das Element einer Ausdruckssprache vor Zeugen nennen wir
Motiv.
Die Beherrschung der Motive ist die Grundlage jeder Ausdruckstechnik. Auf der andern Seite heißt der zum Zweck der Verständigung erzeugte Eindruck
Zeichen
und er bildet das Element jeder Mitteilungstechnik, im höchsten Falle also der menschlichen Wortsprache.
    Von dem Umfang beider Sprachwelten im menschlichen Wachsein macht man sich heute kaum eine Vorstellung. Zur Ausdruckssprache, die überall in frühester Zeit mit dem vollen religiösen Ernst des Tabu auftritt, gehört nicht nur die schwere und strenge Ornamentik, die ursprünglich mit dem Begriff der Kunst schlechthin zusammenfällt und alle starren Dinge zu Trägern des Ausdrucks macht, sondern auch das feierliche Zeremoniell, das mit seinen Formeln das gesamte öffentliche Leben und selbst noch das der Familie überspinnt, [Luk. 10, 4 sagt Jesus zu den Siebzig, die er aussendet: »Und grüßet niemand auf der Straße.« Das Zeremoniell des Grüßens im Freien ist so umfangreich, daß Eilige darauf verzichten müssen. A. Bertholet, Kulturgeschichte Israels (1919), S. 162.] und die »Sprache der Tracht«, nämlich der Kleidung, der Tätowierung und des Schmuckes, die eine
einheitliche
Bedeutung besitzen. Die Forscher des vorigen Jahrhunderts haben sich vergeblich bemüht, die Kleidung aus dem Schamgefühl oder aus Zweckmäßigkeitsgründen abzuleiten. Sie wird nur als Mittel einer Ausdruckssprache verständlich und sie ist das in großartigster Weise in allen hohen Zivilisationen, auch heute noch. Man braucht sich nur der das ganze öffentliche Leben und Treiben beherrschenden Mode, der vorschriftsmäßigen Kleidung bei allen wichtigen Akten und Festen zu erinnern, der Abstufungen des Gesellschaftsanzuges, der Brauttracht, der Trauerkleidung, der militärischen Uniform, des Priesterornates; man denke an Orden und Abzeichen, Mitra und Tonsur, Allongeperücke und Stock, Puder, Ringe, Frisuren, an alles mit Bedeutung Verhüllte und Entblößte, an die Tracht von Mandarinen und Senatoren, Odalisken und Nonnen, an den Hofstaat des Nero, Saladin und Montezuma, um von den Einzelheiten der Volkstracht und der Sprache der Blumen, Farben und Edelsteine ganz zu schweigen. Die Sprache der Religion braucht nicht genannt zu werden, denn alles dieses
ist
Religion.
    Die Mitteilungssprachen, an denen keine überhaupt denkbare Art der Sinnesempfindung ganz unbeteiligt ist, haben für den Menschen hoher Kulturen allmählich drei vorherrschende Zeichen entwickelt, das Bild, den Laut und die Geste, die sich in der Schriftsprache der abendländischen Zivilisation zur Einheit von Buchstabe, Wort und Interpunktion zusammenschließen.
    Im Verlauf dieser langen Entwicklung vollzieht sich endlich
die Ablösung der Sprache vom Sprechen.
Es gibt in der Sprachgeschichte keinen Vorgang von größerer Tragweite. Ursprünglich sind ohne Zweifel alle Motive und Zeichen aus dem Augenblick geboren und nur für einen einzelnen Akt der Wachseinstätigkeit bestimmt. Ihre wirkliche, gefühlte und also gewollte Bedeutung sind ein und dasselbe. Das Zeichen ist Bewegung und nicht ein Bewegtes. Sobald aber ein fester Zeichenbestand dem lebendigen Zeichengeben
entgegentritt,
wird das anders. Es löst sich nicht nur die Tätigkeit von ihren Mitteln, sondern auch
das Mittel von seiner Bedeutung.
Die Einheit beider hört nicht nur auf, etwas Selbstverständliches zu sein, sondern sie wird unmöglich. Das Bedeutungsgefühl ist lebendig und wie alles, was mit Zeit und Schicksal zusammenhängt, einmalig und nie wiederkehrend. Kein Zeichen, und sei es noch so bekannt und gewohnt, wird je in genau derselben Bedeutung wiederholt. Deshalb kehrte ursprünglich kein Zeichen jemals in genau derselben Form wieder. Das Reich der

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