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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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unsere Schrift, diese Wortsprache fürs Auge, würde ohne die Gebärdensprache der Interpunktion fast unverständlich sein.
    Es ist der Grundfehler der Sprachwissenschaft, daß sie Sprache überhaupt und menschliche Wortsprache verwechselt, nicht theoretisch, aber regelmäßig in der Praxis aller Untersuchungen. Das hat zu einer maßlosen Unkenntnis der unübersehbaren Menge von Spracharten geführt, die unter Tieren und Menschen im allgemeinen Gebrauch sind. Das Reich der Sprache ist viel weiter, als alle Forscher bemerken, und die Wortsprache in ihrer heute noch nicht verlorenen Unselbständigkeit nimmt in ihm einen viel bescheideneren Platz ein. Was die »Entstehung der menschlichen Sprache« betrifft, so ist die Frage falsch gestellt. Die Wortsprache – denn sie ist gemeint, was wieder durchaus dasselbe ist – ist überhaupt nicht entstanden in dem Sinne, der hier vorausgesetzt wird. Sie ist weder etwas erstes, noch etwas einziges. Die gewaltige Bedeutung, welche sie von einem gewissen Zeitpunkt ab innerhalb der Menschengeschichte erlangt hat, sollte über ihre Stellung in der Geschichte der freibeweglichen Wesen überhaupt nicht hinwegtäuschen. Mit dem Menschen darf eine Untersuchung der Sprache sicherlich nicht beginnen.
    Aber auch die Vorstellung »Anfang der tierischen Sprache« ist verkehrt. Sprechen ist mit dem lebendigen Dasein des Tieres im Gegensatz zum Dasein der Pflanze so eng verknüpft, daß nicht einmal einzellige Wesen ohne alle Sinnesorgane sprachlos gedacht werden dürfen. Ein Mikrokosmos im Makrokosmos sein und sich anderen mitteilen können ist ein und dasselbe. Es hat keinen Sinn,
innerhalb
der Tiergeschichte vom Anfang der Sprache zu reden. Denn es ist etwas ganz Selbstverständliches, daß mikrokosmische Wesen
in Mehrheit
vorhanden sind. Über andere Möglichkeiten nachzudenken ist Spielerei. Die darwinistischen Phantasien über Urzeugung und erste Elternpaare sollten doch dem Geschmack der Ewig-gestrigen überlassen bleiben. Aber Schwärme, in denen stets ein innerliches Gefühl des »Wir« lebendig ist, sind auch wach und trachten nach Wachseinsbeziehungen vom einen zum andern.
    Wachsein ist Tätigkeit im Ausgedehnten und zwar willkürliche Tätigkeit. Das unterscheidet die Bewegungen eines Mikrokosmos von der mechanischen Beweglichkeit einer Pflanze und auch der Tiere und Menschen, solange sie Pflanzen, nämlich im Zustande des Schlafes sind. Man beobachte die tierische Nahrungs-, Fortpflanzungs-, Verteidigungs-, Angriffstätigkeit: eine Seite davon besteht regelmäßig im Abtasten des Makrokosmos durch die Sinne, mag es sich um das undifferenzierte Empfinden einzelliger Wesen oder um das Sehen eines hochentwickelten Auges handeln. Hier besteht ein deutlicher
Wille zum Empfangen von Eindrücken;
wir nennen das Orientierung. Dazu aber kommt von Anfang an der
Wille zum Erzeugen von Eindrücken bei anderen;
sie sollen angelockt, erschreckt, verjagt werden. Dies nennen wir Ausdruck
und mit ihm ist das Sprechen als Tätigkeit des tierischen Wachseins gegeben.
Seitdem ist nichts grundsätzlich Neues hinzugekommen. Die Weltsprachen hoher Zivilisationen sind nichts als äußerst verfeinerte Ausgestaltungen von Möglichkeiten, welche sämtlich schon in der Tatsache des gewollten Eindrucks einzelliger Wesen aufeinander enthalten sind.
    Dieser Tatsache liegt aber das Urgefühl der Angst zugrunde. Das Wachsein trennt Kosmisches voneinander; es spannt einen Raum zwischen Vereinzeltem, Entfremdetem. Sich allein fühlen, ist der erste Eindruck des täglichen Erwachens. Und daher der Urtrieb, sich inmitten dieser fremden Welt aneinander zu drängen, sich der Nähe des andern sinnlich zu versichern, eine bewußte Verbindung mit ihm zu suchen. Das Du ist die Erlösung von der Angst des Alleinseins.
Die Entdeckung des Du,
indem man es als ein anderes Selbst organisch,
seelisch
aus der Welt des Fremden herauslöst, ist der große Augenblick in der Frühgeschichte des Tierischen.
Damit gibt es Tiere.
Man braucht nur die Kleinwelt eines Wassertropfens unter dem Mikroskop lange und aufmerksam zu betrachten, um überzeugt zu sein, daß die Entdeckung des
Du und damit des Ich
in der denkbar einfachsten Form hier schon voraufgegangen ist. Diese kleinen Wesen kennen nicht nur das andere, sondern auch den anderen; sie besitzen nicht nur Wachsein, sondern auch Wachseinsbeziehungen, und damit nicht nur Ausdruck, sondern auch die Elemente einer Ausdrucks
sprache.
    Erinnern wir uns hier des Unterschiedes der beiden

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