Der Untergang des Abendlandes
starren Zeichen ist etwas unbedingt Gewordenes und rein Ausgedehntes,
kein Organismus, sondern ein System,
das seine
eigene, kausale
Logik besitzt und den unvereinbaren Gegensatz von Raum und Zeit, Geist und Blut auch in die Wachseinsverbindungen zweier Wesen trägt.
Dieser feste Bestand von Zeichen und Motiven mit seiner vermeintlich festen Bedeutung muß gelernt und eingeübt werden, wenn man an der zugehörigen Wachseinsgemeinschaft teilnehmen will.
Zu der vom Sprechen abgelösten Sprache gehört unvermeidlich der Begriff der Schule.
Sie ist unter höheren Tieren vollkommen ausgebildet und in jeder in sich geschlossenen Religion, in jeder Kunst, in jeder Gesellschaft die Voraussetzung dafür, daß man wirklich ein Gläubiger, ein Künstler oder ein Mensch von Erziehung ist. Von hier an gibt es eine scharfe
Grenze
für jede Gemeinschaft. Man muß ihre Sprache, das heißt ihre Glaubenssätze, Sitten, Regeln kennen, um Mitglied zu sein. Gefühl und guter Wille führen im Kontrapunkt so wenig wie im Katholizismus zur Seligkeit. Kultur bedeutet eine unerhörte Steigerung der Tiefe und Strenge der Formensprache auf allen Gebieten; sie besteht damit für jeden einzelnen, der ihr angehört, als seine
persönliche
– religiöse, sittliche, gesellschaftliche, künstlerische – Kultur in einer das ganze Leben ausfüllenden Erziehung und Schulung
für
dieses Leben; es wird darum in allen großen Künsten, in den großen Kirchen, Mysterien und Orden, in der hohen Gesellschaft vornehmer Stände eine Meisterschaft der Formbeherrschung erreicht, die zu den Wundern des Menschentums gehört und die an der Höhe ihrer Forderungen zuletzt zerbricht. Das Wort dafür ist in allen Kulturen, ob es nun ausgesprochen wird oder nicht, Rückkehr zur Natur. Diese Meisterschaft erstreckt sich auch auf die Wortsprache; neben der vornehmen Gesellschaft zur Zeit der griechischen Tyrannen und der Troubadoure, neben den Fugen Bachs und den Vasengemälden des Exekias steht die Kunst der attischen Rede und der französischen Konversation, die beide wie jede andere Kunst eine strenge und langsam erarbeitete Konvention und für den einzelnen eine lange und anspruchsvolle Übung voraussetzen.
Metaphysisch kann die Bedeutung dieser Abtrennung einer starren Sprache nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die tägliche Gewohnheit des Verkehrs in festen Formen und die Beherrschung des gesamten Wachseins durch solche Formen, die nicht mehr empfunden werden, während sie noch in der Bildung begriffen sind, sondern die ganz einfach da sind und nun im eigentlichsten Sinne verstanden werden müssen, führt zu einer immer schärferen Absetzung des Verstehens vom Empfinden innerhalb des Wachseins. Ein ursprüngliches Sprechen wird verstehend empfunden; der Gebrauch einer Sprache verlangt ein Empfinden des
bekannten
Sprachmittels und dann ein Verstehen der ihm
diesmal
unterlegten Absicht. Der Kern aller schulmäßigen Erziehung besteht demnach im Erwerb von
Kenntnissen.
Jede Kirche spricht es laut und deutlich aus, daß nicht das Gefühl, sondern das Wissen zu ihren Heilsmitteln führt; jedes echte Künstlertum beruht auf dem sicheren Wissen von Formen, die der einzelne nicht zu erfinden, sondern zu lernen hat. »Der Verstand« ist das Wissen als Wesen gedacht. Er ist das, was dem Blut, der Rasse, der Zeit durchaus entfremdet ist; aus dem Gegensatz der starren Sprache zum fließenden Blut, zur werdenden Geschichte entstehen die
verneinenden
Ideale des Absoluten, Ewigen, Allgemeingültigen – die Ideale der Kirchen und Schulen.
Daraus folgt aber endlich das Unvollkommene aller Sprachen und der beständige Widerspruch, in dem ihre Anwendung sich zu dem befindet, was das Sprechen wollte oder sollte. Man darf sagen, daß die Lüge mit der Trennung der Sprache vom Sprechen in die Welt gekommen ist. Die Zeichen sind fest, die Bedeutung ist es nicht: das fühlt man zuerst, dann weiß man es, endlich macht man es sich zunutze. Es ist eine uralte Erfahrung, daß man etwas sagen will und die Worte »versagen«, daß man sich falsch ausdrückt und in Wirklichkeit etwas anderes sagt, als man meint, daß man richtig spricht und falsch verstanden wird. Endlich entsteht die schon unter Tieren, z. B. Katzen, weit verbreitete Kunst, »Worte zu gebrauchen, um die Gedanken zu verbergen«. Man sagt nicht alles, man sagt etwas ganz anderes, man spricht förmlich, um wenig, man spricht begeistert, um gar nichts gesagt zu haben. Oder man ahmt die Sprache eines andern nach. Der
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