Der Untergang des Abendlandes
jene beiden nur sprachlich und gewissermaßen künstlich abteilbaren Elemente stets miteinander und durcheinander da sind und durchaus als Einheit, als Totalität hervortreten, ohne daß das erkenntniskritische Vorurteil des geborenen Idealisten und Realisten, wonach entweder die Seele der Welt oder die Welt der Seele als das Primäre – sie sagen »als Ursache« – zugrunde liegt, in der Tatsache des Wachseins an sich irgendwie begründet wäre. Ob in einem philosophischen System der Akzent auf dem einen oder andern liegt, ist lediglich ein Kennzeichen der Persönlichkeit und von rein biographischer Bedeutung.
Gibt man den Begriffen des Werdens und des Gewordnen eine Anwendung auf diese Struktur des Wachseins als der Spannung von Gegensätzen, so erhält das Wort
Leben
einen ganz bestimmten, dem des Werdens nahe verwandten Sinn. Man darf Werden und Gewordnes als die Gestalt bezeichnen, in welcher die Tatsache und das Ergebnis des Lebens für das Wachsein vorhanden sind. Das eigne, fortschreitende, ständig sich erfüllende Leben wird, solange der Mensch wach ist, durch das Element des Werdens in seinem Wachsein dargestellt –
diese Tatsache heißt Gegenwart
– und es besitzt wie alles Werden das geheimnisvolle
Merkmal der Richtung
, das der Mensch in allen höheren Sprachen durch das Wort
Zeit
und die daran sich knüpfenden Probleme geistig zu bannen und – vergeblich – zu deuten versucht hat. Es folgt daraus eine tiefe Beziehung des
Gewordenen (Starren) zum Tode
.
Nennt man die Seele – und zwar ihre erfühlte Art, nicht ihr gedachtes und vorgestelltes Bild – das
Mögliche
, die Welt dagegen das Wirkliche, Ausdrücke, über deren Bedeutung ein inneres Gefühl keinen Zweifel läßt, so erscheint das Leben als
die Gestalt, in welcher sich die Verwirklichung des Möglichen vollzieht
. Im Hinblick auf das Merkmal der Richtung heißt das Mögliche
Zukunft
, das Verwirklichte
Vergangenheit
. Die Verwirklichung selbst, die Mitte und den Sinn des Lebens, nennen wir
Gegenwart
. »Seele« ist das zu Vollendende, »Welt« das Vollendete, »Leben« die Vollendung. Die Ausdrücke Augenblick, Dauer, Entwicklung, Lebensinhalt, Bestimmung, Umfang, Ziel, Fülle und Leere des Lebens erhalten damit eine bestimmte, für alles Folgende, namentlich für das Verständnis historischer Phänomene wesentliche Bedeutung.
Endlich sollen die Worte
Geschichte
und
Natur
, wie schon erwähnt, in einem ganz bestimmten, bisher nicht üblichen Sinne angewandt werden. Es sind darunter
mögliche
Arten zu verstehen, die Gesamtheit des Bewußten, Werden
und
Gewordenes, Leben
und
Erlebtes, in einem einheitlichen, durchgeistigten, wohlgeordneten
Weltbilde
aufzufassen, je nachdem das Werden oder das Gewordne, die Richtung oder die Ausdehnung (»Zeit« und »Raum«) den unteilbaren Eindruck gestaltend beherrschen. Es handelt sich hier
nicht um eine Alternative
, sondern um eine Reihe von unendlich vielen und sehr verschiedenartigen Möglichkeiten, eine »Außenwelt« als Abglanz und Zeugnis des eignen Daseins zu besitzen, eine Reihe, deren äußerste Glieder eine rein
organische
und eine rein
mechanische Weltanschauung
(im wörtlichen Sinne:
Anschauung der Welt
) sind. Der Urmensch (so wie wir sein Wachsein uns vorstellen) und das Kind (wie wir uns erinnern) besitzen noch keine dieser Möglichkeiten mit hinreichender Klarheit der Durchbildung. Als Bedingung dieses höheren Weltbewußtseins hat man den Besitz der
Sprache
anzusehen, und zwar nicht den einer menschlichen Sprache überhaupt, sondern den einer
Kultursprache
, die für den ersten noch nicht vorhanden und für das andere, obwohl vorhanden, noch nicht zugänglich ist. Beide besitzen, um dasselbe mit anderen Worten zu sagen, noch kein klares und deutliches Weltdenken, zwar eine Ahnung, aber noch kein wirkliches Wissen von Geschichte und Natur, in deren Zusammenhang ihr eigenes Dasein eingegliedert erscheint:
Sie haben keine Kultur
.
Damit erhält dieses wichtige Wort einen bestimmten, sehr bedeutsamen Sinn, der in allem Folgenden vorausgesetzt wird. Ich unterscheide im Hinblick auf die oben gewählten Bezeichnungen der Seele als des Möglichen und der Welt als des Wirklichen
mögliche
und
wirkliche
Kultur, das heißt Kultur als
Idee des – allgemeinen oder einzelnen – Daseins
und Kultur als
Körper
dieser Idee, als die Summe ihres versinnlichten, räumlich und faßlich gewordenen Ausdrucks: Taten und Gesinnungen, Religion und Staat, Künste und Wissenschaften, Völker und Städte,
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