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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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unbestimmbare Natureindrücke (»das Fremde«) zu Gottheiten,
numina
, indem er sie durch einen
Namen
, sie begrenzend, bannt. Ebenso sind Zahlen etwas, das Natureindrücke abgrenzt und damit bannt. Mit Namen und Zahlen gewinnt das menschliche Verstehen Macht über die Welt. Die Zeichensprache einer Mathematik und die Grammatik einer Wortsprache sind letzten Endes von gleichem Bau. Die Logik ist immer eine Art Mathematik und umgekehrt. Mithin liegt auch in allen Akten menschlichen Verstehens, welche zur mathematischen Zahl in Beziehung stehen – messen, zählen, zeichnen, wägen, ordnen, teilen [Dazu gehört auch das »Denken in Geld«, vgl. Bd. II, S. 1162ff.] –, die sprachliche, durch die Formen des Beweises, Schlusses, Satzes, Systems dargestellte Tendenz auf Abgrenzung von Ausgedehntem, und erst durch kaum noch bewußte Akte dieser Art gibt es für den wachen Menschen durch Ordnungszahlen eindeutig bestimmte Gegenstände, Eigenschaften, Beziehungen, Einzelnes, Einheit und Mehrheit, kurz die als notwendig und unerschütterlich empfundene Struktur desjenigen Weltbildes, das er »Natur« nennt und als solche »erkennt«.
Natur ist das Zählbare
. Geschichte ist der Inbegriff dessen, was zur Mathematik kein Verhältnis hat. Daher die mathematische Gewißheit der Naturgesetze, die staunende Einsicht Galileis, daß die Natur »
scritta in lingua matematica
« sei und die von Kant hervorgehobene Tatsache, daß die exakte Naturwissenschaft genau so weit reicht wie die Möglichkeit der Anwendung mathematischer Methoden.
    In der Zahl als dem
Zeichen der vollendeten Begrenzung
liegt demnach, wie Pythagoras oder wer es sonst war, infolge einer großartigen, durchaus religiösen Intuition mit innerster Gewißheit begriff, das Wesen alles Wirklichen, das geworden, erkannt, begrenzt zugleich ist. Indes darf man Mathematik, wenn man darunter die Fähigkeit, in Zahlen praktisch zu denken, versteht, nicht mit der viel engeren wissenschaftlichen Mathematik, der mündlich oder schriftlich entwickelten
Lehre
von den Zahlen verwechseln. Die geschriebene Mathematik repräsentiert so wenig wie die in theoretischen Werken niedergelegte Philosophie den ganzen Besitz dessen, was im Schoße einer Kultur an mathematischem und philosophischem Blick und Denken vorhanden war. Es gibt noch ganz andere Wege, das den Zahlen zugrunde liegende Urgefühl zu versinnlichen. Am Anfang jeder Kultur steht ein archaischer Stil, den man nicht nur in der frühhellenischen Kunst hätte geometrisch nennen können. Es liegt etwas Gemeinsames, ausdrücklich Mathematisches in diesem antiken Stil des 10. Jahrhunderts, im Tempelstil der 4. Dynastie Ägyptens mit seiner unbedingten Herrschaft der geraden Linie und des rechten Winkels, im altchristlichen Sarkophagrelief und im romanischen Bau und Ornament. Jede Linie, jede menschliche oder Tierfigur mit ihrer gar nicht imitativen Absicht offenbart hier ein mystisches Zahlendenken in unmittelbarer Beziehung auf das Geheimnis des Todes (des Starren).
    Gotische Dome und dorische Tempel sind
steingewordne Mathematik
. Gewiß hat erst Pythagoras die antike Zahl als das Prinzip einer Weltordnung
greifbarer Dinge
, als
Maß oder Größe
, wissenschaftlich erfaßt. Aber sie wurde eben damals auch als schöne Ordnung von sinnlich-körperhaften Einheiten durch den strengen Kanon der Statue und die dorische Säulenordnung zum Ausdruck gebracht. Alle großen Künste sind ebensoviel Arten zahlenmäßiger bedeutungsvoller Grenzgebung. Man denke an das Raumproblem in der Malerei. Eine hohe mathematische Begabung kann auch ohne jede Wissenschaft
technisch
produktiv sein und in dieser Form zum vollen Bewußtsein ihrer selbst gelangen. Man wird doch angesichts des gewaltigen Zahlensinnes, den die Raumgliederung der Pyramidentempel, die Bau-, Bewässerungs- und Verwaltungstechnik, vom ägyptischen Kalender ganz zu schweigen, schon im Alten Reiche voraussetzt, nicht behaupten wollen, daß das wertlose »Rechenbuch des Ahmes« aus dem Neuen Reich das Niveau der ägyptischen Mathematik bezeichne. Die Eingebornen Australiens, deren Geist durchaus der Stufe des Urmenschen angehört, besitzen einen mathematischen Instinkt oder, was dasselbe ist, ein noch nicht durch Worte und Zeichen mitteilbar gewordenes Denken in Zahlen, das in bezug auf die Interpretation reiner Räumlichkeit das griechische bei weitem übertrifft. Sie haben als Waffe den Bumerang erfunden, dessen Wirkung auf eine gefühlsmäßige Vertrautheit mit Zahlenarten

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