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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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wirtschaftliche und gesellschaftliche Formen, Sprachen, Rechte, Sitten, Charaktere, Gesichtszüge und Trachten.
Höhere Geschichte
ist, mit dem Leben, dem Werden eng verwandt,
die Verwirklichung möglicher Kultur
. [Über den Begriff des geschichtslosen Menschen vgl. Bd. II, S. 613f.]
    Es muß hinzugefügt werden, daß diese grundlegenden Bestimmungen zum großen Teil nicht mehr im Bereich der Mitteilbarkeit durch Begriff, Definition und Beweis liegen, daß sie vielmehr ihrer tiefsten Bedeutung nach gefühlt, erlebt, erschaut werden müssen. Es besteht ein selten recht gewürdigter Unterschied zwischen
Erleben
und
Erkennen
, zwischen der unmittelbaren Gewißheit, wie sie die Arten der Intuition (Erleuchtung, Eingebung, künstlerisches Schauen, Lebenserfahrung, der Blick des Menschenkenners, Goethes »exakte sinnliche Phantasie«) gewähren, und den Ergebnissen verstandesmäßiger Erfahrung und experimenteller Technik. Der Mitteilung dienen dort der Vergleich, das Bild, das Symbol, hier die Formel, das Gesetz, das Schema. Gewordenes wird erkannt, oder vielmehr, wie sich zeigen wird, das Gewordensein für den menschlichen Geist ist mit dem vollzogenen Erkenntnisakt identisch. Ein Werden kann nur erlebt, mit tiefem wortlosen Verstehen gefühlt werden. Hierauf beruht das, was man Menschenkenntnis nennt. Geschichte verstehen heißt Menschenkenner im höchsten Sinne sein. Je reiner ein Geschichtsbild, desto ausschließlicher ist es diesem bis in das Innere fremder Seelen dringenden Blick zugänglich, der mit den Erkenntnismitteln, welche die »Kritik der reinen Vernunft« untersucht, nichts zu schaffen hat. Der Mechanismus eines reinen Naturbildes, etwa der Welt Newtons und Kants, wird erkannt, begriffen, zergliedert, in Gesetze und Gleichungen, zuletzt in ein System gebracht. Der Organismus eines reinen Geschichtsbildes, wie es die Person Plotins, Dantes und Brunos war, wird angeschaut, innerlich erlebt, als Gestalt und Sinnbild aufgefaßt, zuletzt in dichterischen und künstlerischen Konzeptionen wiedergegeben. Goethes »lebendige Natur« ist ein
historisches
Weltbild. [Und zwar mit »
biologischem
Horizont«, vgl. Bd. II, S. 588f.]
2
    Ich wähle als Beispiel für die Art, wie eine Seele sich im Bilde ihrer Umwelt zu verwirklichen sucht, inwiefern also gewordene Kultur Ausdruck und Abbild einer Idee menschlichen Daseins ist, die
Zahl
, die aller Mathematik als schlechthin gegebenes Element zugrunde liegt. Und zwar deshalb, weil die Mathematik, in ihrer ganzen Tiefe den wenigsten erreichbar, einen einzigartigen Rang unter allen Schöpfungen des Geistes behauptet. Sie ist eine Wissenschaft strengsten Stils wie die Logik, aber umfassender und bei weitem gehaltvoller; sie ist eine echte Kunst neben der Plastik und Musik, was die Notwendigkeit einer leitenden Inspiration und die großen Konventionen der Form in ihrer Entwicklung angeht; sie ist endlich eine Metaphysik von höchstem Range, wie Plato und vor allem Leibniz beweisen. Jede Philosophie ist bisher in der Verbundenheit mit einer
zugehörigen
Mathematik erwachsen. Die Zahl ist das Symbol der
kausalen
Notwendigkeit. Sie enthält wie der Gottesbegriff den letzten Sinn der Welt als Natur. Deshalb darf man das Dasein von Zahlen ein Mysterium nennen und das religiöse Denken aller Kulturen hat sich diesem Eindruck nie entzogen. [Vgl. Bd. II, S. 885f.]
    Wie alles Werden das ursprüngliche Merkmal der
Richtung
(Nichtumkehrbarkeit), so trägt alles Gewordene das Merkmal der
Ausdehnung
, und zwar so, daß nur eine künstliche Trennung der Bedeutung dieser Worte möglich erscheint. Das eigentliche Geheimnis alles Gewordenen und also (räumlich-stofflich) Ausgedehnten aber verkörpert sich im Typus der
mathematischen
im Gegensatz zur
chronologischen
Zahl. Und zwar liegt in ihrem Wesen die Absicht einer
mechanischen Grenzsetzung
. Die Zahl ist darin dem
Worte
verwandt, das – als Begriff, »begreifend«, »bezeichnend« – ebenfalls Welteindrücke abgrenzt. Das Tiefste ist hier allerdings unfaßlich und unaussprechlich. Die
wirkliche
Zahl, mit welcher der Mathematiker arbeitet, das
exakt vorgestellte, gesprochene, geschriebene Zahlzeichen
– Ziffer, Formel, Zeichen, Figur – ist wie das gedachte, gesprochene, geschriebene Wort bereits ein Symbol dafür, versinnlicht und mitteilbar, ein greifbares Etwas für das innere und äußere Auge, in welchem die Grenzsetzung abgebildet erscheint. Der Ursprung der Zahlen gleicht dem Ursprung des Mythos. Der primitive Mensch erhebt

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