Der Untergang des Abendlandes
schließen läßt, die wir der höheren geometrischen Analysis zuweisen würden. Sie besitzen
dementsprechend
– aus einem später zu erläuternden Zusammenhange – ein äußerst kompliziertes Zeremoniell und eine so feine sprachliche Abstufung der Verwandtschaftsgrade, wie sie nirgends, selbst in hohen Kulturen nicht wieder beobachtet worden ist. Dem entspricht es, daß die Griechen in ihrer reifsten Zeit unter Perikles in Analogie zur euklidischen Mathematik weder einen Sinn für das Zeremoniell des öffentlichen Lebens noch für die Einsamkeit besaßen, sehr im Gegensatz zum Barock, das neben der Analysis des Raumes den Hof des Sonnenkönigs und ein auf dynastischen Verwandtschaften beruhendes Staatensystem entstehen sah.
Es ist der Stil einer Seele, der in einer Zahlenwelt, aber nicht in ihrer wissenschaftlichen Fassung allein zum Ausdruck kommt.
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Daraus folgt eine entscheidende Tatsache, die den Mathematikern selbst bisher verborgen geblieben ist.
Eine Zahl an sich gibt es nicht und kann es nicht geben
. Es gibt mehrere Zahlenwelten, weil es mehrere Kulturen gibt. Wir finden einen indischen, arabischen, antiken, abendländischen Typus des mathematischen Denkens und damit Typus einer Zahl, jeder von Grund aus etwas Eignes und Einziges, jeder Ausdruck eines andern Weltgefühls, jeder Symbol von einer auch wissenschaftlich genau begrenzten Gültigkeit, Prinzip einer Ordnung des Gewordenen, in der sich das tiefste Wesen einer einzigen und keiner andern Seele spiegelt, derjenigen, welche Mittelpunkt gerade dieser und keiner andern Kultur ist. Es gibt demnach mehr als eine Mathematik. Denn ohne Zweifel ist der innere Bau der euklidischen Geometrie ein ganz anderer als der der kartesischen, die Analysis von Archimedes eine andere als die von Gauß, nicht nur der Formensprache, der Absicht und den Mitteln nach, sondern vor allem in der Tiefe, im ursprünglichen und wahllosen Sinn der Zahl, deren wissenschaftliche Entwicklung sie darstellt. Diese Zahl, das Grenzerlebnis, das in ihr mit Selbstverständlichkeit versinnlicht worden ist, mithin auch die gesamte Natur, die ausgedehnte Welt, deren Bild durch diese Grenzgebung entstanden und die immer nur der Behandlung durch eine einzige Art von Mathematik zugänglich ist, das alles spricht nicht vom allgemeinen, sondern jedesmal von einem ganz bestimmten Menschentum.
Es hängt also für den Stil einer entstehenden Mathematik alles davon ab, in welcher Kultur sie wurzelt, was für Menschen über sie nachdenken. Der Geist kann die in ihr angelegten Möglichkeiten zur wissenschaftlichen Entfaltung bringen, sie handhaben, an ihrer Behandlung zur höchsten Reife gelangen; sie abzuändern ist er völlig außerstande. In den frühesten Formen des antiken Ornaments und der gotischen Architektur ist die Idee der euklidischen Geometrie und der Infinitesimalrechnung verwirklicht, Jahrhunderte bevor der erste gelehrte Mathematiker dieser Kulturen geboren wurde.
Ein tiefes inneres Erlebnis, das eigentliche
Erwachen des Ich,
welches das Kind zum höhern Menschen, zum Gliede der ihm angehörigen Kultur macht, bezeichnet den Beginn des Zahlen- wie des Sprachverständnisses. Erst von hier an gibt es für das Wachsein Gegenstände als etwas nach Zahl und Art Begrenztes und Wohlunterschiedenes, erst von hier an genau bestimmbare Eigenschaften, Begriffe, eine kausale Notwendigkeit, ein
System
der Umwelt, eine
Weltform, Weltgesetze
– das »Gesetzte« ist seiner Natur nach immer das Begrenzte, Starre, den Zahlen Unterworfene – und ein plötzliches fast metaphysisches Gefühl von Angst und Ehrfurcht dafür, was Messen, Zählen, Zeichnen, Formen in der Tiefe bedeuten.
Nun hat Kant den Besitz menschlichen Wissens nach Synthesen a priori (notwendig und allgemeingültig) und a posteriori (aus der Erfahrung von Fall zu Fall stammend) eingeteilt und die mathematische Erkenntnis den ersteren zugerechnet. Zweifellos hat er damit ein starkes inneres Gefühl in eine abstrakte Fassung gebracht. Aber ganz abgesehen davon, daß eine scharfe Grenze zwischen beiden, wie sie nach der ganzen Herkunft des Prinzips unbedingt gefordert werden müßte, nicht vorhanden ist (wofür die moderne höhere Mathematik und Mechanik mehr als hinreichend Beispiele geben), erscheint auch das a priori, sicherlich eine der genialsten Konzeptionen aller Erkenntniskritik, als ein sehr schwieriger Begriff. Kant setzt mit ihm, ohne sich die Mühe eines Beweises zu geben – der sich auch gar nicht erbringen läßt –,
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