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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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dieser Kultur Regel und in den andern nicht einmal Ausnahme ist, [Der antike Mensch erhält im Zustande höchster leiblicher Erregung die Kraft, bewußtlos Künftiges zu verkünden. Aber diese Visionen sind sämtlich ganz unliterarisch. Die antiken sibyllinischen Bücher, die mit der späteren christlichen Schrift gleichen Namens gar nichts zu tun haben, wollen nichts sein als eine Sammlung von Orakeln.] aber sie hat sich erst seit Kyros herangebildet. Die altisraelitischen Propheten und sicherlich auch Zarathustra sehen und hören in der Verzückung Dinge, die sie später verbreiten. Das Deuteronomische Gesetzbuch ist 621 »im Tempel gefunden worden«, das heißt, es soll als Weisheit der Väter gelten. Das erste und zwar sehr bewußte Beispiel eines »Koran« ist das Buch des Hesekiel, das der Autor in einer ausgedachten Vision von Gott empfängt und »verschlingt« (Kap. 3). Hier ist in der denkbar gröbsten Form ausgedrückt, was später dem Begriff und der Gestalt des gesamten apokalyptischen Schrifttums zugrunde liegt. Aber allmählich gehörte eine solche
substanzielle
Form der Empfängnis zu den Bedingungen jedes kanonischen Buches. Aus nachexilischer Zeit stammt die Vorstellung von den Gesetzestafeln, die Moses am Sinai erhält. Später wurde für die ganze Tora, etwa seit der Makkabäerzeit für die meisten Schriften des Alten Testaments ein solcher Ursprung angenommen. Seit dem Konzil von Jabna (um 90 n. Chr.) gilt das ganze Werk als »Eingebung« im buchstäblichen Sinne. Aber ganz dieselbe Entwicklung hat in der persischen Religion stattgefunden bis zur Heiligsprechung des Awesta im 3. Jahrhundert, und der gleiche Begriff der Eingebung erscheint in der zweiten Vision des Hermas, in den Apokalypsen, den chaldäischen, gnostischen und mandäischen Schriften, und er liegt endlich wie etwas ganz Natürliches den Vorstellungen der Neupythagoräer und Neuplatoniker von den Schriften ihrer Meister stillschweigend zugrunde. Kanon ist der technische Ausdruck für die Gesamtheit der Schriften, die von einer Religion als eingegeben betrachtet werden. Als Kanon sind seit 200 n. Chr. die hermetische Sammlung und das Corpus der chaldäischen Orakel entstanden, das letzte ein heiliges Buch der Neuplatoniker, das der »Kirchenvater« Proklos allein neben Platons Timaios gelten ließ.
    Die junge Jesusreligion hat ursprünglich wie Jesus selbst die jüdischen Schriften als Kanon anerkannt. Die ersten Evangelien erheben durchaus nicht den Anspruch, »das Wort« der Gottheit in sichtbarer Gestalt zu sein.
Das Johannesevangelium ist die erste christliche Schrift, die mit offenbarer Absicht als Koran gelten will
, und von ihrem unbekannten Schöpfer geht überhaupt erst der Gedanke aus, daß es einen christlichen Koran geben könne und müsse. Die schwere Entscheidung, ob die neue Religion mit der von Jesus geglaubten brechen solle, kleidet sich mit innerer Notwendigkeit in die Frage, ob man die jüdischen Schriften als Inkarnationen der
einen
Wahrheit noch anerkennen dürfe; sie ist von »Johannes« schweigend und von Marcion laut verneint, von den Kirchenvätern aber, was unlogisch war, bejaht worden.
    Aus dieser metaphysischen Auffassung vom Wesen des heiligen Buches ergibt sich, daß die Ausdrücke »Gott spricht« und »die Schrift sagt« in einer unserem Denken ganz fremden Weise völlig identisch sind. Es erinnert an manche Märchenzüge in 1001 Nacht, daß Gott selbst in diese Worte und Buchstaben gebannt ist und von dem Berufenen entsiegelt und zum Offenbaren der Wahrheit gezwungen werden kann. Die Auslegung ist wie die Eingebung ein Vorgang von mystischem Hintersinn (Mark. 1, 22). Daher die Ehrfurcht, mit welcher diese kostbaren Handschriften verwahrt werden, ihre so ganz unantike Verzierung mit allen Mitteln der jungen magischen Kunst und die Entstehung immer neuer Schriftarten, die in den Augen ihrer Gebraucher allein die Kraft besitzen, die herabgesandte Wahrheit in sich zu bannen.
    Aber ein solcher Koran ist dem Wesen nach unbedingt richtig und deshalb unveränderlich und keiner Verbesserung fähig. [Vgl. Bd. II, S. 642.] Es entwickelt sich deshalb die Gewohnheit der geheimen Interpolationen, um den Text mit den Überzeugungen der Zeit in Einklang zu bringen. Ein Meisterstück dieser Methode sind die Digesten Justinians. Aber außer sämtlichen Schriften der Bibel gilt das zweifellos auch von den Gathas des Awesta und sogar von den damals umlaufenden Schriften des Plato, Aristoteles und andrer Autoritäten der

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