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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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heidnischen Theologie. Viel wichtiger noch ist die in allen magischen Religionen nachweisbare Annahme einer geheimen Offenbarung oder eines geheimen Schriftsinns, die nicht durch Aufzeichnung, sondern durch das Gedächtnis berufener Männer erhalten und mündlich fortgepflanzt werden. Nach jüdischer Anschauung hat Moses am Sinai außer der schriftlichen
noch eine geheime mündliche Tora
empfangen, [IV. Esra 14; S. Funk, Die Entstehung des Talmuds, S. 17; Hirschs Kommentar zu Exod. 21, 2.] deren Aufzeichnung untersagt war. »Gott sah voraus«, heißt es im Talmud, »daß einst eine Zeit kommen werde, in der sich die Heiden der Tora bemächtigen und zu Israel sprechen werden: Auch wir sind Söhne Gottes. Dann wird der Herr sagen: Nur wer meine Geheimnisse kennt, der ist mein Sohn. Und was sind die Geheimnisse Gottes? Die mündliche Lehre.« Der Talmud enthält also in seiner allgemein zugänglichen Gestalt nur einen Teil des religiösen Stoffes, und ebenso stand es mit den christlichen Texten der Frühzeit. Es ist oft bemerkt worden, [So Ed. Meyer, Urspr. u. Anf. d. Christ., S. 95.] daß Markus von der Versuchung und Auferstehung nur in Andeutungen spricht und daß Johannes auf die Lehre vom Paraklet nur anspielt und die Einsetzung des Abendmahls ganz fortläßt. Der Eingeweihte verstand, was gemeint war, und der Ungläubige sollte es nicht wissen. Später gab es eine wirkliche »Arkandisziplin«, wonach die Christen über das Taufbekenntnis, Vaterunser, Abendmahl und anderes Ungläubigen gegenüber Stillschweigen beobachteten. Bei den Chaldäern, Neupythagoräern, Kynikern, Gnostikern und vor allem den Sekten von den altjüdischen bis zu den islamischen hat das einen solchen Umfang angenommen, daß uns ihre Geheimlehren zum großen Teil unbekannt sind. Über das nur im Geist aufbewahrte Wort gab es einen
consensus des Schweigens
, eben weil man des »Wissens« der Zugehörigen sicher war. Wir sind geneigt, gerade von dem Wichtigsten nachdrücklich und deutlich zu reden, und kommen deshalb in Gefahr, magische Lehren mißzuverstehen, weil wir das Ausgesprochene mit dem Vorhandenen und den profanen Wortsinn mit der eigentlichen Bedeutung gleichsetzen. Das gotische Christentum hatte keine Geheimlehre und deshalb ein doppeltes Mißtrauen gegen den Talmud, in dem es mit Recht nur den Vordergrund der jüdischen Lehre sah.
    Aber rein magisch ist auch die Kabbala, die aus Zahlen, Buchstabenformen, Punkten und Strichen einen geheimen Sinn erschließt und die so alt sein muß wie das als Substanz herabgesandte Wort überhaupt. Die Geheimlehre von der Schöpfung der Welt aus den zweiundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabets und die vom Thronwagen in der Vision des Hesekiel sind schon zur Makkabäerzeit nachweisbar. Eng damit verwandt ist die allegorische Auslegung der heiligen Texte. Alle Traktate der Mischna, alle Kirchenväter, alle alexandrinischen Philosophen sind voll davon; in Alexandria hat man den ganzen antiken Mythos und sogar Plato nach dieser Methode behandelt und mit den jüdischen Propheten – Moses heißt dann Musaios – verglichen.
    Die einzige streng
wissenschaftliche
Methode, welche ein unveränderlicher Koran für die Fortentwicklung der Meinungen übrig läßt, ist die kommentierende. Da der Theorie nach das »Wort« einer Autorität nicht verbessert werden kann, so kann es nur anders ausgelegt werden. Man würde in Alexandria nie gesagt haben, daß Plato irre, aber man »deutete« ihn. Das geschieht in den streng ausgebildeten Formen der Halacha, und deren schriftliche Festlegung hat die Gestalt eines Kommentars, die alle religiösen, philosophischen und gelehrten Literaturen dieser Kultur vollständig beherrscht. Nach dem Vorgang der Gnostiker haben die Kirchenväter Schriftkommentare zur Bibel verfaßt; zum Awesta entstand sogleich der Pehlewikommentar des Zend, zum jüdischen Kanon die Midrasche, aber auch die »römischen« Juristen um 200 und die »spätantiken« Philosophen, d. h. die Scholastiker der werdenden Kultkirche gingen denselben Weg – die seit Poseidonios immer wieder ausgelegte Apokalypse dieser Kirche war Platos »Timaios«. Die Mischna ist ein einziger großer Kommentar zur Tora. Aber als die ältesten Ausleger selbst Autoritäten und ihre Schriften also Korane geworden waren, schrieb man Kommentare zu Kommentaren wie der letzte Platoniker Simplikios im Westen, die Amoräer, welche der Mischna die Gemara hinzufügten, im Osten und in Byzanz die Verfasser der kaiserlichen

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