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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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ist ein Einsatz, eine Richtung, ein Ziel der Sehnsucht gegeben. In weiter Zukunft wird etwas erschaut, unbestimmt und dunkel noch, aber mit der innerlichsten Gewißheit, daß es kommt. Mit dem Blick darauf, mit dem Gefühl einer Sendung lebt man von nun an.
    Die zweite Welle erhebt sich steil in den apokalyptischen Strömungen seit 300. Hier erwacht das magische Weltbewußtsein und erbaut sich eine Metaphysik der letzten Dinge in gewaltigen Bildern, denen schon das Ursymbol der kommenden Kultur, die Höhle, zugrunde liegt. Die Vorstellung von den Schrecken des Weltendes, dem jüngsten Gericht, der Auferstehung, von Paradies und Hölle, und damit der große Gedanke einer Heilsgeschichte, in der das Schicksal von Welt und Menschheit eins sind, brechen überall hervor, ohne daß man einem einzelnen Land und Volk die Schöpfung zuschreiben könnte, und kleiden sich in wunderbare Szenen, Gestalten und Namen. Die Messiasgestalt ist mit einem Schlage fertig. Die Versuchung des Heilands durch den Satan wird erzählt. [Vendidad 19, 1, ist es Zarathustra, der versucht wird.] Aber zugleich quillt eine tiefe und sich beständig steigernde Angst auf vor dieser Gewißheit einer unverrückbaren und sehr nahen Grenze des Geschehens, vor dem Augenblick, in dem es nur noch Vergangenheit gibt. Die magische Zeit, die »Stunde«, das höhlenhafte Gerichtetsein gibt dem Leben einen neuen Takt und dem Worte Schicksal einen neuen Inhalt. Der Mensch steht plötzlich ganz anders vor der Gottheit da. In der Weihinschrift der großen Basilika von Palmyra, die lange als christlich galt, wird Baal der Gute, Barmherzige, Milde genannt, und dies Gefühl dringt mit der Verehrung des Rahman bis nach Südarabien; es erfüllt die Psalmen der Chaldäer und die Lehre von dem gottgesandten Zarathustra, die an die Stelle seiner Lehre getreten ist; und es bewegt das Judentum der Makkabäerzeit, in der die meisten Psalmen entstanden, und alle die längst vergessenen übrigen Gemeinschaften der antiken und indischen Welt.
    Die dritte Erschütterung erfolgt in der Zeit Cäsars und führt zur Geburt der großen Erlösungsreligionen. Damit bricht der helle Tag dieser Kultur an. Was nun folgt, ein oder zwei Jahrhunderte hindurch, ist von einer Höhe des religiösen Erlebens, die nicht überboten, aber auch nicht länger ertragen werden kann. Eine solche an Vernichtung grenzende Spannung haben auch die gotische Seele, die vedische und jede andere nur einmal in ihrer Morgenfrühe kennen gelernt.
    Jetzt entsteht der große Mythos im persischen, mandäischen, jüdischen, christlichen Glaubenskreise und in dem der westlichen Pseudomorphose, nicht anders als zur indischen, antiken und abendländischen Ritterzeit. So wenig als in dieser Kultur sich Nation, Staat und Kirche, göttliches und weltliches Recht trennen können, so wenig gibt es einen deutlichen Unterschied ritterlichen und religiösen Heldentums. Der Prophet verschmilzt mit dem Streiter, und die Geschichte eines großen Dulders erhebt sich zum nationalen Epos. Die Mächte des Lichtes und der Finsternis, fabelhafte Wesen, Engel und Dämonen, der Satan und die guten Geister ringen miteinander; die ganze Natur ist ein Kampfplatz vom Anfang der Welt bis zu ihrer Vernichtung. Tief unten in der Menschenwelt ereignen sich die Abenteuer und Leiden der Verkünder, religiösen Heroen und heldenmütigen Märtyrer. Jede Nation in dem Sinne, wie er dieser Kultur angehört, besitzt ihre Heldensage. Im Osten wird aus dem Leben des persischen Propheten eine epische Dichtung von gewaltigem Umriß. Bei seiner Geburt erschallt das Zarathustra-Lachen durch alle Himmel, und die ganze Natur antwortet ihm. Im Westen entsteht zu der immer weiter ausgestalteten Leidensgeschichte Jesu,
dem eigentlichen Epos der christlichen Nation
, der Märchenkreis um seine Kindheit, der zuletzt eine ganze poetische Gattung ausfüllt. Die Gestalt der Mutter Gottes und die Taten der Apostel werden wie die Geschichten der abendländischen Kreuzzugshelden zum Mittelpunkt ausgedehnter Romane (Thomasakten, Pseudo-Clementinen), die während des 2. Jahrhunderts überall vom Nil bis zum Tigris entstehen. In der jüdischen Haggada und in den Targumen sammelt sich eine Fülle von Märchen um Saul, David, die Patriarchen und die großen Tannaim wie Jehuda und Akiba, [M. J. bin Gorion, Die Sagen der Juden (1913).] und die unerschöpfliche Phantasie dieser Zeit ergreift auch den ganzen ihr erreichbaren Stoff spätantiker Kultlegenden und Stifterromane (Leben

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