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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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vervollkommnen könne. Der Raum verneint die Zeit: die wahre Moral ist absolut, ewig fertig und stets dieselbe. In ihrer Tiefe liegt immer etwas Lebenverneinendes, ein Enthalten, Entsagen, Entselbsten bis zur Askese, bis zum Tode. Schon die sprachliche Fassung drückt es aus: die religiöse Moral enthält Verbote, nicht Gebote. Das Tabu ist, auch wo es scheinbar bejaht, eine Summe von Verzichten. Sich befreien von der Tatsachenwelt, den Möglichkeiten des Schicksals entfliehen, die Rasse in sich als den beständig lauernden Feind betrachten: dazu bedarf es eines harten Systems, der Lehre und der Übung. Keine Handlung sollte zufällig und triebhaft sein, d. h. dem Blute überlassen bleiben. Sie soll nach Gründen und Folgen bedacht und den Geboten entsprechend »
ausgeführt
« werden. Die äußerste Anspannung des Wachseins ist notwendig, um nicht beständig der Sünde zu verfallen. Zuerst Enthaltsamkeit von allem, was zum Blute gehört: der Liebe, der Ehe. Liebe und Haß unter Menschen sind kosmisch und böse; die Liebe der Geschlechter ist das äußerste Gegenteil der zeitlosen Liebe und Furcht vor Gott und deshalb die Urschuld, um derentwillen Adam aus dem Paradiese verstoßen wurde und die Erbsünde die Menschheit belastet. Zeugung und Tod begrenzen das Leben des Leibes im Raume. Daß es der Leib ist, macht das eine zur Schuld, das andere zur Strafe. Ó?ìá ó?ìá – der antike Leib ein Grab! – war das Bekenntnis der orphischen Religion. Aischylos und Pindar haben das Dasein als Schuld begriffen. Als Frevel empfinden es die Heiligen aller Kulturen, um es durch Askese oder die tief mit ihr verwandte Vergeudung im Orgiasmus abzutöten. Böse ist das Wirken innerhalb der Geschichte, die Tat, das Heldentum, die Freude am Kampf, Sieg und Beute. Darin klopft der Takt des kosmischen Daseins und übertönt und verwirrt das geistige Schauen und Denken. Die »Welt« überhaupt, womit die Welt als Geschichte gemeint ist, ist infam. Sie kämpft, statt zu entsagen; sie kennt die Idee des Opfers nicht. Sie meistert die Wahrheit durch Tatsachen. Sie entzieht sich, indem sie Trieben folgt, dem Denken von Ursache und Wirkung. Und deshalb ist es das höchste Opfer, das der geistige Mensch bringen kann, wenn er sie selbst den Mächten der Natur darbringt.
Ein Stück von diesem Opfer ist jede moralische Handlung
. Ein sittlicher Lebenslauf ist eine ununterbrochene Kette solcher Opfer. Vor allem das des Mitleids: da bringt der innerlich Mächtige dem Machtlosen seine Überlegenheit dar. Der Mit-Leidende tötet etwas in sich. Aber man verwechsle das Mitleid im großen religiösen Sinne nicht mit der haltlosen Stimmung des alltäglichen Menschen, der sich nicht beherrschen kann, und vor allem nicht mit dem
Rassegefühl der Ritterlichkeit
, die überhaupt keine Moral der Gründe und Gebote ist, sondern eine vornehme,
selbstverständliche Sitte
aus dem unbewußten Taktgefühl eines hochgezüchteten Lebens heraus. Was man in zivilisierten Zeiten Sozialethik nennt, hat mit Religion gar nichts zu tun und beweist durch sein Vorhandensein nur die Schwäche und Leere der Religiosität, aus der alle Kraft metaphysischer Gewißheit und damit die Voraussetzung einer echten, glaubensstarken und entsagenden Moral verschwunden ist. Man denke etwa an den Unterschied von Pascal und Mill. Sozialethik ist nichts als praktische Politik. Sie gehört als sehr spätes Produkt derselben geschichtlichen Welt an, in der
die Sitte
auf der Höhe aller Frühzeiten als Edelmut und Ritterlichkeit starker Geschlechter erscheint, gegenüber denen, die es im Leben der Geschichte und des Schicksals schlecht haben, das was man heute in wohlerzogenen Kreisen, die Takt und Zucht besitzen, gentlemanlike oder Anstand nennt und dessen Gegenstück nicht die Sünde ist, sondern die Gemeinheit. Das ist wieder der Unterschied von Dom und Burg. Diese Gesinnung fragt nicht nach Geboten und Gründen. Sie fragt überhaupt nicht. Sie liegt im Blute – eben das bedeutet Takt – und sie fürchtet sich nicht vor Strafe und Vergeltung, sondern vor Verachtung, im besonderen Selbstverachtung. Sie ist nicht selbstlos, sondern folgt gerade aus der Fülle eines starken Selbst. Aber das Mitleid hat, gerade weil es ebenfalls innere Größe verlangt, in ganz denselben Frühzeiten seine heiligsten Diener wie Franz von Assisi und Bernhard von Clairvaux gefunden, die eine Durchgeistigung des Entsagens besaßen, eine Seligkeit in dem Sich-selbst-darbringen, eine ätherische, blutlose,

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