Der Untergang des Abendlandes
Seelenbild des ursprünglichen Seelenglaubens in gleicher Weise und mit dem gleichen
vorbestimmten
Ergebnis. Die Physik des Innern heißt systematische Psychologie und sie entdeckt im Menschen als antike Wissenschaft dingartige Seelen
teile
íï?ò, èõìüò, ?ðéèõìßá, als magische Seelen
substanzen
(ruach, nephesch)
, als faustische Seelen
kräfte
(Denken, Fühlen, Wollen). Es sind die Gebilde, welche das religiöse Nachdenken fürchtend und liebend in den kausalen Beziehungen von Schuld, Sünde, Gnade, Gewissen, Lohn und Strafe weiter verfolgt.
Das Geheimnis des Daseins führt, sobald Glauben und Wissen sich ihm zuwenden, zu einem verhängnisvollen Irrtum. Statt das Kosmische selbst zu erreichen, das völlig außerhalb aller Möglichkeiten des tätigen Wachseins liegt, wird das Bewegtsein des Leibes im Bilde der Augenwelt sinnlich und das von ihm abgezogene Gedankenbild als mechanisch-kausaler Zusammenhang begrifflich zergliedert. Aber das wirkliche Leben
führt
man; man erkennt es nicht.
Wahr ist nur das Zeitlose
. Wahrheiten liegen jenseits der Geschichte und des Lebens; dafür ist das Leben selbst etwas jenseits aller Ursachen, Wirkungen und Wahrheiten. Beides, die Kritik am Wachsein und am Dasein, ist geschichtswidrig und lebensfremd. Aber im ersten Falle entspricht das durchaus der kritischen Absicht und der inneren Logik des Gegenstandes, den man meint, im letzten nicht. Der Unterschied von Glauben und Wissen oder Furcht und Neugier oder Offenbarung und Kritik ist also nicht der letzte. Wissen ist nur eine späte Form des Glaubens. Aber
Glaube und Leben
, Liebe aus der geheimen Furcht vor der Welt und Liebe aus dem geheimen Haß der Geschlechter, die Kenntnis der anorganischen und das Fühlen der organischen Logik, Ursachen und Schicksale – das ist der tiefste aller Gegensätze. Hier entscheidet es sich nicht, was für eine Art zu denken man hat – ob religiös oder kritisch – oder worüber man denkt, sondern ob man ein Denker ist – gleichviel über was –
oder ein Täter
.
In das Gebiet der Tat greift das Wachsein erst dann hinüber, wenn es
Technik
wird. Auch religiöses Wissen ist Macht, und Kausalitäten kann man nicht nur feststellen, sondern auch handhaben. Wer das geheime Verhältnis zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos kennt, der beherrscht es auch, sei es ihm offenbart worden oder habe er es den Dingen abgelauscht. Und so ist der echte Tabumensch der Zauberer und Beschwörer. Er zwingt die Gottheit durch Opfer und Gebet; er übt die wahren Riten und Sakramente aus, weil sie Ursachen von unvermeidlichen Wirkungen sind und jedem dienen
müssen
, der sie kennt. Er liest in den Sternen und heiligen Büchern; in seiner geistigen Gewalt liegt zeitlos und allem Zufälligen entrückt das
kausale
Verhältnis von Schuld und Sühne, Reue und Lossprechung, Opfer und Gnade. Durch die Verkettung heiliger Gründe und Folgen ist er selbst ein Gefäß geheimnisvoller Macht geworden und damit ebenfalls eine Ursache neuer Wirkungen, an die man glauben muß, um ihrer teilhaftig zu werden.
Von hier aus versteht man, was die europäisch-amerikanische Welt der Gegenwart so gut wie ganz vergessen hat, den letzten Sinn der religiösen Ethik, der
Moral
. Sie ist überall dort, wo sie stark und echt ist, ein Verhalten, das durchaus die Bedeutung
ritueller Akte und Übungen
besitzt, ein beständiges
exercitium spirituale
, mit Ignaz von Loyola zu reden, nämlich
vor der Gottheit
, die dadurch besänftigt und beschworen werden soll. »Was soll ich tun, daß ich selig werde?« Dieses »Daß« ist der Schlüssel zum Verständnis aller wirklichen Moral. Ein Wozu und Weshalb liegt in der Tiefe, selbst in jenen feinsten Fällen einiger Philosophen, die eine Moral »um ihrer selbst willen« erdacht haben, also doch auch mit einem tiefgefühlten Wozu, das nur von wenigen ihresgleichen gewürdigt werden kann.
Es gibt nur kausale Moral
, d. h. eine
sittliche Technik
auf dem Hintergrunde einer gläubigen Metaphysik.
Moral ist eine bewußte und planmäßige Kausalität des Sichverhaltens, unter Absehen von allen Besonderheiten des wirklichen Lebens und Charakters, etwas, das ewig und für alle gilt, zeitlos und zeitfeindlich also und eben deshalb »wahr«. Auch wenn die Menschheit gar nicht existierte, würde die Moral wahr und gültig sein so ist die sittlich-anorganische Logik der als System begriffenen Welt wirklich schon ausgesprochen worden. Nie würde man zugeben, daß sie sich geschichtlich entwickeln oder
Weitere Kostenlose Bücher