Der Untergang des Abendlandes
solchen Gegensatz gibt es nicht.
Rom ist nur
eine
unter zahllosen antiken Städten der großen Kolonisationszeit, von Etruskern gebaut und unter der etruskischen Dynastie des 6. Jahrhunderts religiös erneuert; es ist wohl möglich, daß die kapitolinische Göttergruppe Jupiter, Juno, Minerva, die damals an Stelle der uralten Dreiheit Jupiter, Mars, Quirinus der »Religion des Numa« trat, irgendwie mit dem Familienkult der Tarquinier zusammenhängt, wobei die Stadtgöttin Minerva ganz unverkennbar der Athena Polias nachgebildet ist. [Wissowa, Religion und Kultus der Römer, S. 41. Von der etruskischen Religion mit ihrer gewaltigen Bedeutung für ganz Italien und damit die volle Hälfte der frühantiken Landschaft gilt dasselbe, was oben über die talmudische bemerkt worden ist (S. 786f.). Sie liegt außerhalb der beiden »klassischen« Philologien und wird deshalb gegenüber der achäischen und dorischen Religion, mit denen sie eine Einheit des Geistes und der Entwicklung bildet, wie ihre Gräber, Tempel und Mythen beweisen, vollständig vernachlässigt.] Man darf die Kulte dieser einen Stadt nur mit denen
einzelner
griechisch sprechenden Städte auf gleicher Altersstufe vergleichen, etwa Spartas oder Thebens, die nicht im geringsten farbenreicher gewesen sind. Das wenige, was sich da als allgemein hellenisch herausstellt, wird auch allgemein italisch sein. Und was die Behauptung betrifft, daß die »römische« Religion im Unterschiede von derjenigen griechischer Stadtstaaten den Mythos nicht gekannt habe – woher wissen wir das? Wir würden von der großen Göttersage der Frühzeit überhaupt nichts wissen, wenn wir auf den Festkalender und die öffentlichen Kulte griechischer Einzelstädte angewiesen wären, so wenig wie die Akten des Konzils von Ephesus von der Frömmigkeit Jesu, oder eine Kirchenordnung der Reformation etwas von der franziskanischen Mystik ahnen lassen. Menelaos und Helena waren für den lakonischen Staatskult Baumgötter, nichts weiter. Der antike Mythos stammt aus einer Zeit, wo es die Polis mit ihren Festen und sakralen Satzungen noch gar nicht gab, Athen so wenig wie Rom. Er hat mit ihren religiösen Aufgaben und Absichten, die sehr verstandesmäßig sind, überhaupt nichts zu tun. Mythos und Kultus berühren sich in der Antike noch weniger als anderswo. Und er ist auch gar keine Schöpfung des ganzen hellenischen Kulturgebietes, nicht »griechisch«, sondern ebenso wie die Kindheitsgeschichte Jesu und die Gralssage in hochbewegten Kreisen engumgrenzter Gebiete entstanden, die Vorstellung vom Olymp z.B. in Thessalien; von da aus wurde er Gemeinbesitz
aller
Gebildeten von Cypern bis nach Etrurien hin und also auch in Rom. Die etruskische Malerei setzt ihn als allbekannt voraus, und mithin haben ihn die Tarquinier und ihr Hof ebenfalls gekannt. Man mag mit dem Ausdruck: an diesen Mythos »glauben«, jede Vorstellung verbinden, die man will; sie wird von dem Römer der Königszeit ebenso gelten wie von den Einwohnern Tegeas oder Korkyras.
Die beiden ganz verschiedenen Bilder, welche die heutige Wissenschaft zustande gebracht hat, sind das Ergebnis nicht der Tatsachen, sondern
der Methode
, die hier (Mommsen) vom Festkalender und den Staatskulten, dort von der Dichtung ausgeht. Man braucht nur die »lateinische« Methode, die zum Bilde Wissowas geführt hat, auf die griechischen Städte anzuwenden, um ein ganz ähnliches zu erhalten (etwa in Nilssons »Griechischen Festen«).
Bedenkt man das, so erscheint die antike Religion durchaus als innere Einheit. Die gewaltige, frühlinghafte Götterlegende des elften Jahrhunderts, die mit ihren seligen und todtraurigen Stimmungen an Gethsemane, an Balders Tod, an Franziskus erinnert, ist durch und durch »Theorie«, nämlich Schauen, ein Weltbild vor dem innern Auge, und zwar aus dem gemeinsamen inbrünstigen Wachwerden erlesener Kreise fern von der Ritterwelt. [ Es ist ganz gleichgültig, ob Dionysos aus Thrakien, Apollon aus Kleinasien, Aphrodite aus Phönikien »entlehnt« sind; daß aus vielen tausend fremdartigen Motiven diese wenigen ausgewählt, so umgefühlt und zu dieser prachtvollen Einheit verbunden wurden, bedeutet eine vollkommene Neuschöpfung, ebenso wie der Marienkult der Gotik, obwohl damals der gesamte Formbestand aus dem Osten übernommen wurde.] Die viel späteren Stadtreligionen aber sind durchaus
Technik
, Kultus, und stellen also nur eine, und zwar eine ganz andere Seite der Frömmigkeit dar. Sie stehen dem großen Mythos
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