Der Untergang des Abendlandes
ebenso fern wie dem Volksglauben; sie beschäftigen sich weder mit Metaphysik noch mit Ethik, sondern nur mit der Vollziehung sakralrechtlicher Handlungen; und endlich stammt die Auswahl der Kulte in den einzelnen Städten sehr oft und im Gegensatz zum Mythos nicht aus einer einheitlichen Weltanschauung, sondern aus den zufälligen Ahnen- und Familienkulten großer Geschlechter, die ganz wie in gotischer Zeit ihren Heiligen zum Schutzherrn der Stadt gemacht haben und sich dessen Feste und Verehrung vorbehielten. So waren die Luperkalien in Rom zu Ehren des Flurgottes Faunus Vorrecht der Quinctier und Fabier.
Die chinesische Religion, deren große »gotische« Zeit um 1300 bis 1000 hegt und den Aufstieg der Dschou-Dynastie umfaßt, will mit äußerster Vorsicht behandelt sein. Angesichts der flachen Tiefe und pedantischen Schwärmerei der chinesischen Denker vom Schlage des Konfuzius und Laotse, die alle im
ancien régime
dieser Staatenwelt geboren waren, scheint es sehr gewagt, auf eine Mystik und Legende großen Stils am Anfang überhaupt schließen zu wollen, aber sie muß einmal dagewesen sein. Allerdings, von diesen übervernünftigen Großstädtern erfahren wir darüber nichts, so wenig wie von Homer über Kalchas, aber aus einem andern Grunde. Was wüßten wir von der gotischen Frömmigkeit, wenn alle ihr Schriften der Zensur von Puritanern und Rationalisten wie Locke, Rousseau und Wolff verfallen wären! Und doch betrachtet man dies konfuzianische
Ende
chinesischer Innerlichkeit als deren Anfang, wenn nicht gar der Synkretismus der Hanzeit als die chinesische Religion bezeichnet wird! [In de Groot, Universismus (1918), wo tatsächlich die Systeme der Taoisten, Konfuzianer und Buddhisten mit Selbstverständlichkeit als die Religionen Chinas behandelt werden. Das ist, als wollte man die antike Religion von Caracalla an datieren.]
Wir wissen jetzt, daß es entgegen der allgemeinen Annahme ein mächtiges altchinesisches Priestertum gab, [Conrady in Wassiljew, Die Erschließung Chinas (1909), S. 232; B. Schindler, Das Priestertum im alten China I (1919).] daß im Text des Schuking Reste der alten Heldensänge und Göttermythen rationalistisch verarbeitet und so erhalten geblieben sind; ebenso würden das Dschou-li, Ngi-li und Schi-king noch sehr vieles offenbaren, sobald man sie mit der Überzeugung prüft, daß hier viel Tieferes vorliegen muß, als Konfuzius und seinesgleichen begreifen konnten. Wir hören von chthonischen und phallischen Kulten der früheren Dschouzeit, von einem heiligen Orgiasmus, wobei der Götterdienst von ekstatischen Massentänzen begleitet war, von mimischen Darstellungen und Wechselreden zwischen dem Gott und der Priesterin, woraus sich vielleicht ganz wie in Griechenland das chinesische Drama entwickelt hat. [Conrady, China, S. 516.] Und wir ahnen endlich, weshalb der überquellende Reichtum frühchinesischer Göttergestalten und Mythen von einer Kaisermythologie verschlungen werden mußte. Denn nicht nur alle Sagenkaiser, sondern auch die meisten Gestalten der Hia- und Schang-Dynastie vor 1400 sind trotz aller Jahreszahlen und Chroniken nichts als in Geschichte verwandelte Natur. Die Ansätze dazu liegen tief in den Möglichkeiten jeder jungen Kultur. Der Ahnenkult versucht immer, sich der Naturdämonen zu bemächtigen. Alle homerischen Helden und ebenso Minos, Theseus, Romulus sind aus Göttern zu Königen geworden. Im Heliand war Christus im Begriff, es zu werden. Maria ist die gekrönte Königin des Himmels. Es ist die höchste, ganz unbewußte Art, in der Rassemenschen etwas verehren können: was groß ist, muß von Rasse sein, mächtig, herrschend, Ahnherr ganzer Geschlechter. Ein starkes Priestertum weiß diese Mythologie der Zeit sehr bald zu vernichten, aber in der Antike hat sie sich halb und in China ganz durchgesetzt, genau im Verhältnis zum Hinschwinden des priesterlichen Elements. Die alten Götter sind jetzt Kaiser, Prinzen, Minister und Gefolgsleute; Naturereignisse sind Herrschertaten und Völkerstürme soziale Unternehmungen geworden. Es hätte den Konfuzianern gar nichts erwünschter kommen können: da hatten sie den Mythos, der sozialethische Tendenzen in unabsehbarer Menge aufnehmen konnte; sie brauchten die Spuren des ursprünglichen Naturmythos nur zu tilgen.
Vor dem chinesischen Wachsein waren Himmel und Erde Hälften des Makrokosmos, ohne Gegensatz und jede ein Spiegelbild der andern. Der magische Dualismus fehlt dem Bilde ebenso wie die faustische Einheit
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