Der Untergang des Abendlandes
empfand seine Bestimmung so, daß Kritik den Glauben zu bestätigen hatte. Gelang es nicht, so war das kritische Verfahren falsch. Wissen war gerechtfertigter, nicht widerlegter Glaube.
Jetzt aber ist die kritische Kraft des städtischen Geistes so groß geworden, daß sie nicht mehr bestätigt, sondern prüft. Der Bestand an Glaubenswahrheiten, und zwar mit dem Verstand, nicht mit dem Herzen aufgenommen, wird das erste bloße Objekt zerlegender Geistestätigkeit. Das unterscheidet die Scholastik der Frühzeit von der wirklichen Philosophie des Barock und also auch neuplatonisches und islamisches, vedisches und brahmanisches, orphisches und vorsokratisches Denken. Die – man möchte sagen profane – Kausalität des Menschenlebens, der Umwelt, des Erkennens wird Problem. Die ägyptische Philosophie des Mittleren Reiches hat in
diesem
Sinne den Wert des Lebens abgemessen; vielleicht war ihr die chinesische – vorkonfuzianische – Spätphilosophie (etwa 800–500 v. Chr.) nahe verwandt, von der nur das dem Kuan-tse († 645) zugeschriebene Buch einen dunklen Begriff gibt. Ganz geringe Spuren deuten darauf hin, daß erkenntnistheoretische und biologische Probleme im Mittelpunkt dieser echten und einzigen, ganz verschwundenen Philosophie Chinas gestanden haben.
Innerhalb der Barockphilosophie steht die abendländische Naturwissenschaft ganz für sich. Etwas Ähnliches besitzt keine andere Kultur. Sicherlich war sie von Anfang an nicht die Magd der Theologie, sondern
Dienerin des technischen Willens zur Macht und nur deshalb
mathematisch und experimentell gerichtet und von Grund aus
praktische
Mechanik. Da sie durch und durch zuerst Technik ist und dann Theorie, so muß sie so alt sein wie der faustische Mensch überhaupt. Technische Arbeiten von einer erstaunlichen Energie der Kombination erscheinen schon um 1000. Schon im 13. Jahrhundert hat Robert Grosseteste den Raum als Funktion des Lichtes behandelt, Petrus Peregrinus 1289 die bis auf Gilbert (1600) herab beste, experimentell begründete Abhandlung über den Magnetismus geschrieben, und beider Schüler Roger Bacon eine naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie als Grundlage für seine technischen Versuche entwickelt. Aber die Kühnheit im Entdecken dynamischer Zusammenhänge geht noch viel weiter. Das kopernikanische System ist in einer Handschrift von 1322 angedeutet und einige Jahrzehnte darauf von den Schülern Occams zu Paris, Buridan, Albert von Sachsen und Nicolas von Oresme, in Verbindung mit der vorweggenommenen Mechanik Galileis mathematisch entwickelt worden. [M. Baumgartner, Gesch. der Philos. des Mittelalters (1915), S. 425ff., 571 ff., 620 ff.] Man täusche sich nicht über die letzten Triebe, die all diesen Entdeckungen zugrunde liegen: das reine Schauen hätte des Experiments nicht bedurft, aber das faustische Symbol der Maschine, das schon im 12. Jahrhundert zu mechanischen Konstruktionen trieb und das Perpetuum mobile zum Prometheusgedanken des abendländischen Geistes gemacht hat, konnte es nicht entbehren.
Die Arbeitshypothese ist immer das erste
, gerade das, was für keine andre Kultur einen Sinn hatte. Man muß sich durchaus mit der erstaunlichen Tatsache vertraut machen, daß der Gedanke, jede Kenntnis von natürlichen Zusammenhängen sofort praktisch auszubeuten, den Menschen durchaus fernliegt mit Ausnahme der faustischen und derer, die wie die Japaner, Juden und Russen heute unter dem geistigen Zauber ihrer Zivilisation stehen. Daß unser Weltbild dynamisch angelegt ist, enthält schon den Begriff der Arbeitshypothese. Erst das zweite ist für jene grübelnden Mönche die Theorie, das wirkliche »Schauen«, und ganz unvermerkt, wie diese aus der technischen Leidenschaft entstanden war, leitete sie nun hinüber zu der echt faustischen Auffassung Gottes als des großen Maschinenmeisters, der alles konnte, was sie selbst in ihrer Ohnmacht nur zu wollen wagten. Unvermerkt wird die Welt Gottes von einem Jahrhundert zum andern dem Perpetuum mobile ähnlicher. Und als, ebenfalls ganz unvermerkt, vor dem immer mehr durch Experiment und technische Erfahrung geübten Blick auf die Natur der gotische Mythos schattenhaft wurde, entstanden aus den Begriffen mönchischer Arbeitshypothesen seit Galilei jene kritisch abgeklärten
numina
der modernen Naturwissenschaft, die Stoß- und Fernkräfte, die Gravitation, die Lichtgeschwindigkeit, endlich »die« Elektrizität, die im elektrodynamischen Weltbilde durch Einverleibung der übrigen Energieformen
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