Der Untergang des Abendlandes
politischen Ehrgeiz der Rassemenschen im Priesterkleid in den Bereich der heiligen Kausalität, die nicht von dieser Welt ist.
Man teilte damals im Abendland – und die Lage war in den andern Kulturen die gleiche – das
corpus christianum
der Bevölkerung in die drei Stände des
status politicus, ecclesiasticus
und
oeconomicus
(Bürgertum) ein, aber da man von der Stadt und nicht mehr von Pfalz und Dorf aus dachte, so gehörten zum ersten Stande Beamte und Richter, zum zweiten die Gelehrten, und der Bauer wurde vergessen. Von hier aus begreift sich der Gegensatz von Renaissance und Reformation, der ein
Standesgegensatz
ist und kein Unterschied im Weltgefühl wie der von Renaissance und Gotik. Höfischer Geschmack und klösterlicher Geist sind in die Stadt verpflanzt worden und stehen sich hier gegenüber: in Florenz die Medici und Savonarola, im Hellas des 8. und 7. Jahrhunderts die vornehmen Geschlechter der Polis, in deren Kreisen die homerischen Gesänge nun endlich aufgezeichnet wurden, und die letzten, jetzt ebenfalls schreibenden Orphiker. Die Renaissancekünstler und Humanisten sind die legitimen Nachfolger der Troubadours und Minnesänger, und es führt eine Linie wie von Arnold von Brescia zu Luther, so von Bertran de Born und Peire Cardenal über Petrarca zu Ariost. Die Burg ist zum Stadthause und der Ritter zum Patrizier geworden. Die ganze Bewegung haftet an Palästen, soweit sie Höfe sind; sie beschränkt sich auf die Ausdrucksgebiete, die für eine vornehme Gesellschaft in Betracht kamen; sie war heiter wie Homer, weil sie höfisch war – Probleme sind schlechter Geschmack; Dante und Michelangelo haben wohl gefühlt, daß sie nicht dazu gehörten – und sie dringt über die Alpen an die Höfe des Nordens vor, nicht weil sie Weltanschauung, sondern weil sie ein neuer Geschmack war. In der »nordischen Renaissance« der Handels- und Residenzstädte hat der feine Ton des italienischen Patriziats lediglich den des französischen Rittertums abgelöst.
Aber auch die letzten Reformatoren wie Savonarola und Luther waren
städtische
Mönche. Das unterscheidet sie bis ins Innerste von Joachim und Bernhard. Ihre städtische und geistige Askese leitet von der Einsiedelei stiller Täler zur Gelehrtenstube des Barock hinüber. Das mystische Erlebnis Luthers, aus dem seine Lehre von der Rechtfertigung hervorging, ist nicht das des heiligen Bernhard, der Wälder und Hügel um sich und Wolken und Sterne über sich sah, sondern das eines Mannes, der durch kleine Fenster auf Gassen, Hauswände und Giebel hinausblickt. Die weite, gotterfüllte Natur liegt fern, jenseits der Stadtmauer. Drinnen haust der vom Lande abgelöste freie Geist. Innerhalb des städtischen, steinumgebenen Wachseins haben sich Empfinden und Verstehen feindselig gesondert, und die städtische Mystik der letzten Reformatoren ist durchaus die des reinen Verstehens, nicht des Auges, eine Verklärung der Begriffe, welche die farbigen Gestalten des frühen Mythos verblassen läßt.
Aber eben deshalb ist sie in ihrer wirklichen Tiefe die Sache der Wenigsten. Nichts ist von der sinnlichen Fülle geblieben, die einst auch dem Ärmsten einen Halt bot. Die gewaltige Tat Luthers ist eine rein geistige Entscheidung. Er war nicht umsonst auch der letzte große Scholastiker aus der Schule Occams. [Boehmer, Luther im Lichte der neueren Forschung (1918), S. 54 ff.] Er hat die faustische Persönlichkeit vollkommen befreit; zwischen ihr und dem Unendlichen verschwindet die vermittelnde Person des Priesters. Sie ist jetzt ganz allein, ganz auf sich selbst gestellt, ihr eigener Priester und Richter. Aber das Volk konnte den befreienden Zug darin nur empfinden, nicht verstehen. Es hat, und zwar mit Begeisterung, das Zerbrechen sichtbarer Pflichten begrüßt; daß sie durch noch strengere, rein geistige Pflichten ersetzt wurden, begriff es nicht mehr. Franz von Assisi hat viel gegeben und wenig genommen, die städtischen Reformatoren nahmen viel und gaben den meisten zu wenig zurück.
Die heilige Kausalität des Bußsakraments ersetzte Luther durch das mystische Erlebnis der inneren Lossprechung »allein durch den Glauben«. Darin kommt er Bernhard von Clairvaux sehr nahe: das ganze Leben eine Buße, nämlich eine ununterbrochene geistige Askese gegenüber der sichtbaren im äußeren Werke. Die innere Lossprechung haben beide als göttliches Wunder verstanden: indem der Mensch sich verwandelt, verwandelt er auch Gott. Was aber keine rein geistige Mystik ersetzen
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