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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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kann, ist das Du draußen, in der freien Natur. Sie haben beide ermahnt: Du mußt auch glauben, daß Gott dir vergeben hat; aber für jenen wurde der Glaube durch die Macht des Priesters zum Wissen erhoben, für diesen sank er zum Zweifel, zur Verzweiflung herab. Dies kleine, aus dem Kosmischen abgelöste, in ein Einzeldasein verschlagene Ich, allein in der schreckhaftesten Bedeutung, bedurfte der Nähe eines mächtigen Du, und um so mehr, je schwächer der Geist war. Darin liegt die letzte Bedeutung des abendländischen Priesters, der seit 1215 durch das Sakrament der Priesterweihe und den
character indelebilis
aus der übrigen Menschheit herausgehoben war: eine Hand, mit der auch der Ärmste Gott ergreifen konnte. Diese
sichtbare Verbindung
mit dem Unendlichen hat der Protestantismus zerstört. Starke Geister eroberten es sich zurück, den Schwachen ging es langsam verloren. Bernhard, dem für sich das innere Wunder gelang, wollte doch den andern den milderen Weg nicht nehmen; gerade für seine lichte Seele war die Marienwelt überall in der lebendigen Natur das ewige Nahe und Hilfsbereite. Luther, der nur sich, nicht die Menschen gekannt hat, setzte an die Stelle der wirklichen Schwäche den geforderten Heroismus. Für ihn war das Leben ein verzweifelter Kampf gegen den Teufel, und den forderte er von jedem. Und jeder stand in diesem Kampf allein.
    Die Reformation hat die ganze lichte und tröstende Seite des gotischen Mythos beseitigt: den Marienkult, die Heiligenverehrung, die Reliquien, die Bilder, die Wallfahrten, das Meßopfer. Der Teufels- und Hexenmythos blieb, denn er war die Verkörperung und Ursache der inneren Qual, die nun erst zu ihrer letzten Größe heranwuchs. Die Taufe war wenigstens für Luther ein Exorzismus, das eigentliche Sakrament der Teufelsbannung. Es entstand eine große, rein protestantische Teufelsliteratur. [M. Osborn, Die Teufelsliteratur des 16. Jahrhunderts (1893).] Von dem Farbenreichtum der Gotik blieb das Schwarz, von ihren Künsten die Musik und zwar die Orgelmusik zurück. Aber an Stelle der mythischen Lichtwelt, deren hilfreiche Nähe der Volksglaube doch nicht entbehren konnte, tauchte nun aus längst verschollener Tiefe ein Stück des altgermanischen Mythos wieder auf. Es geschah so heimlich, daß es in seiner wahren Bedeutung noch gar nicht erkannt worden ist. Man sagt zu wenig, wenn man von Volkssage und Volksbrauch redet: es war ein echter Mythos und ein echter Kultus, der in dem festen Glauben an Zwerge, Kobolde, Nixen, Hausgeister, schweifende Seelen, und in den mit heiliger Scheu geübten Riten, Opferhandlungen und Bannungen steckt. In Deutschland wenigstens trat die Sage unbemerkt wieder an Stelle des Marienmythos. Maria hieß nun Frau Holde und wo einst ein Heiliger gestanden hatte, erschien jetzt der getreue Eckart. Im englischen Volk entstand etwas, das dort längst als Bibelfetischismus bezeichnet worden ist.
    Was Luther fehlte, ein ewiges Verhängnis für Deutschland, war der Blick für Tatsachen und die Kraft der praktischen Organisation. Er hat weder seine Lehre in ein klares System gebracht noch die große Bewegung geleitet und ihr ein bestimmtes Ziel gesetzt. Beides leistete allein sein großer Nachfolger Calvin. Während die lutherische Bewegung im mittleren Europa führerlos weitertrieb, betrachtete er seine Herrschaft in Genf als den Ausgangspunkt einer planmäßigen Unterwerfung der Welt unter das rücksichtslos zu Ende gedachte System des Protestantismus. Deshalb wurde er und er allein eine Weltmacht. Deshalb war es der Entscheidungskampf zwischen den Geistern Calvins und Loyolas, der seit dem Untergang der spanischen Armada die Weltpolitik im Staatensystem des Barock und den Kampf um die Herrschaft der Meere völlig beherrscht hat. Während Reformation und Gegenreformation in Mitteleuropa um eine kleine Reichsstadt oder ein paar elende Schweizerkantone rangen, fielen in Kanada, an der Gangesmündung, am Kap, am Mississippi Entscheidungen zwischen Frankreich, Spanien, England und den Niederlanden, in denen überall diese beiden großen Organisatoren der Spätreligion des Abendlandes sich gegenüberstanden.
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    Die geistige Gestaltungskraft der Spätzeit beginnt nicht mit, sondern nach der Reformation. Ihre eigentlichste Schöpfung ist die freie Wissenschaft. Die Gelehrsamkeit war noch für Luther durchaus
ancilla theologiae
gewesen. Calvin ließ den freigeistigen Arzt Servet verbrennen. Das Denken der ägyptischen, vedischen und orphischen Frühzeit

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