Der Untergang des Abendlandes
von Grund aus ein andrer, im Ghetto steht alles still und auch in der Seele des einzelnen. Aber selbst wenn er sich als Angehörigen seines Wirtsvolkes betrachtet und an dessen Geschick teilnimmt, wie es 1914 in vielen Ländern der Fall war, so erlebt er es in Wirklichkeit doch nicht als
sein
Geschick, sondern er nimmt dafür Partei, er beurteilt es als interessierter Zuschauer, und gerade der letzte Sinn dessen, worum gekämpft wird, muß ihm stets verschlossen bleiben. Es gab im Dreißigjährigen Kriege einen jüdischen Reitergeneral – er liegt auf dem alten Judenfriedhof in Prag begraben –, aber was waren die Gedanken Luthers und Loyolas für ihn? Was haben die den Juden nahe verwandten Byzantiner von den Kreuzzügen verstanden? Das gehört zu den tragischen Notwendigkeiten der höheren Geschichte, die aus den Lebensläufen von Einzelkulturen besteht, und hat sich oft wiederholt. Die Römer, damals ein altes Volk, hätten nie begreifen können, was für die Juden in dem Prozeß Jesu und beim Aufstand des Bar Kochba auf dem Spiele stand, und die europäisch-amerikanische Welt hat in den fellachenhaften Revolutionen der Türkei (1908) und Chinas (1911) ihre vollkommene Verständnislosigkeit für das bewiesen, was dort vorging. Da ihr das ganz anders angelegte Denken und Innenleben und also auch der Staatsgedanke und die Idee der Souveränität – dort des Kalifen, hier des Tien-tse – verschlossen blieben, so hat sie den Gang der Dinge nicht beurteilen und auch nicht vorausberechnen können. Der Mensch einer fremden Kultur kann Zuschauer sein und also beschreibender Historiker des Vergangenen, aber niemals Politiker, d. h. ein Mann, der die Zukunft in sich wirken fühlt. Besitzt er nicht die materielle Macht, um in der Form seiner eigenen Kultur handeln und die der fremden mißachten oder lenken zu können, wie es allerdings die Römer im jungen Osten und Disraeli in England durften, so steht er den Ereignissen hilflos gegenüber. Der Römer und Grieche dachte immer die Lebensbedingungen seiner Polis in die fremden Ereignisse hinein, der moderne Europäer blickt überall durch die Begriffe Verfassung, Parlament, Demokratie hindurch auf fremde Schicksale, obwohl die Anwendung solcher Vorstellungen auf andere Kulturen lächerlich und sinnlos ist, und der Angehörige des jüdischen
consensus
verfolgt die Geschichte der Gegenwart, die nichts ist als die der über alle Erdteile und Meere verbreiteten faustischen Zivilisation, mit dem Grundgefühl des magischen Menschen, selbst wenn er von dem abendländischen Charakter seines Denkens fest überzeugt ist.
Da jeder magische consensus landfremd und geographisch unbegrenzt ist, so sieht er unwillkürlich in allen Kämpfen um die faustischen Ideen des Vaterlandes, der Muttersprache, des Herrscherhauses, der Monarchie, der Verfassung eine Rückkehr von Formen, die ihm innerlich durchaus fremd und deshalb lästig und sinnlos, zu denen, welche seiner Natur gemäß sind; und aus dem Wort international, das ihn begeistern kann, hört er eben das Wesen des landlosen und grenzenlosen consensus heraus, ob es sich nun um Sozialismus, Pazifismus oder Kapitalismus handelt. Wenn für die europäisch-amerikanische Demokratie die Verfassungskämpfe und Revolutionen eine Entwicklung zum zivilisierten Ideal bedeuten, so sind sie für ihn – was ihm so gut wie nie zum Bewußtsein kommt – der Abbau alles dessen, was anders ist als er. Selbst wenn die Macht des consensus in ihm erschüttert ist und das Leben seines Wirtsvolkes eine äußere Anziehung bis zu wirklichem Patriotismus auf ihn übt, so ist seine Partei doch immer diejenige, deren Ziele dem Wesen der magischen Nation am vergleichbarsten sind. Deshalb ist er in Deutschland Demokrat und in England – wie der Parse in Indien – Imperialist. Genau dasselbe Mißverständnis liegt vor, wenn der Westeuropäer die Jungtürken und Reformchinesen für Geistesverwandte, nämlich für »konstitutionell« hält. Der innerlich zugehörige Mensch bejaht im letzten Grunde doch selbst dort, wo er zerstört; der innerlich fremde verneint, selbst wo er aufbauen möchte. Was die abendländische Kultur in ihren Kolonialgebieten durch Reformen eigenen Stils vernichtet hat, ist nicht auszudenken, und ebenso vernichtend wirkt das Judentum, wo es auch eingreift. Das Gefühl von der Notwendigkeit dieses wechselseitigen Mißverstehens führt zu dem furchtbaren, tief ins Blut gedrungenen Haß, der sich an sinnbildliche Merkmale wie Rasse,
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