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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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einen geistlichen Sinn. Es gab auch in ihm eine puritanische Bewegung, die den Talmud verwarf und zur reinen Tora zurückkehren wollte. Die Gemeinschaft der Karäer ist nach manchen Vorläufern um 760 im nördlichen Syrien entstanden, eben dort, von wo ein Jahrhundert vorher die bilderstürmenden christlichen Paulikianer und etwas später der islamische Sufismus ausgingen, drei magische Richtungen, deren innere Verwandtschaft niemand verkennen wird. Die Karäer wurden wie die Puritaner jeder andern Kultur von der Orthodoxie wie von der Aufklärung bekämpft. Die rabbinischen Gegenschriften entstanden von Cordova und Fes bis nach Südarabien und Persien hin. Aber damals entstand auch, ein Produkt des »jüdischen Sufismus« und zuweilen an Swedenborg erinnernd, das Hauptwerk der rationalistischen Mystik, das Buch Jezirah, dessen kabbalistische Grundvorstellungen sich mit der byzantinischen Bildersymbolik und dem gleichzeitigen Zauberwesen des griechischen »Christentums zweiter Ordnung« ebenso berühren wie mit der Volksreligion des Islam.
    Eine ganz neue Lage wird um die Jahrtausendwende durch den Zufall geschaffen, daß der westlichste Teil des consensus sich plötzlich im Bereiche der jungen abendländischen Kultur befindet. Die Juden waren wie die Parsen, Byzantiner und Moslime zivilisiert und weltstädtisch geworden; die germanisch-romanische Welt lebte im stadtlosen Lande, und kaum hatten sich um Klöster und Märkte Ansiedlungen, noch auf Generationen hin ohne eigene Seele gebildet. Die einen waren fast schon Fellachen, die anderen fast noch Urvolk. Der Jude begriff die gotische Innerlichkeit, die Burg, den Dom, der Christ die überlegene, fast zynische Intelligenz und das fertig ausgebildete »Gelddenken« nicht. Man haßte und verachtete sich, noch kaum aus dem Bewußtsein eines Rasseunterschiedes, sondern aus Mangel an »Gleichzeitigkeit«. Der jüdische consensus baute in die Flecken und Landstädte überall seine großstädtischen – proletarischen – Ghettos ein. Die Judengasse ist der gotischen Stadt um tausend Jahre voraus. Genau so lagen zur Zeit Jesu die Römerstädte zwischen den Dörfern am See Genezareth.
    Aber diese jungen Nationen waren außerdem mit dem Boden und der Idee des Vaterlandes fest verbunden; der landlose consensus, dessen Zusammenhalt für seine Mitglieder keine Absicht und Organisation, sondern ein ganz unbewußter, ganz metaphysischer Trieb war, ein Ausdruck des unmittelbarsten magischen Weltgefühls, trat ihnen als etwas Unheimliches und völlig Unverständliches entgegen. Damals entstand die Sage vom ewigen Juden. Es war schon viel, wenn ein schottischer Mönch in ein lombardisches Kloster kam, und das starke Heimatgefühl nahm er dahin mit; aber wenn ein Rabbiner aus Mainz, wo sich um 1000 die bedeutendste Talmudschule des Abendlandes befand, oder Salerno nach Kairo, Basra oder Merw kam, so war er in jedem Ghetto zu Hause. In diesem schweigenden Zusammenhalt lag die Idee der magischen Natio n [Vgl. Bd. II, S. 766 f.] ; er war Staat, Kirche und Volk zugleich, ganz wie im damaligen Griechentum, Parsentum und Islam – was man im Abendland nicht wußte. Spinoza und Uriel Acosta sind aus diesem
Staat
, der sein eigenes Recht und sein von den Christen gar nicht bemerktes öffentliches Leben hatte und auf die umgebende Welt der Wirtsvölker wie auf eine Art von Ausland herabsah, durch einen wirklichen Hochverratsprozeß ausgewiesen worden, ein Vorgang, dessen tieferen Sinn diese Wirtsvölker überhaupt nicht verstehen konnten; und der bedeutendste Denker der östlichen Chassiden, Senior Salman, ist 1799 von der rabbinischen Gegenpartei der Petersburger Regierung wie einem fremden Staate ausgeliefert worden.
    Das Judentum des westeuropäischen Kreises hatte die noch im maurischen Spanien vorhandene Beziehung zum Lande vollständig verloren. Es gibt keine Bauern mehr. Das kleinste Ghetto ist ein wenn auch noch so armseliges Stück Großstadt, und seine Bewohner zerfallen wie die des erstarrten Indien und China in Kasten – die Rabbiner sind die Brahmanen und Mandarinen des Ghetto – und die Masse der Kuli mit einer zivilisierten, kalten, weit überlegenen Intelligenz und einem rücksichtslosen Geschäftssinn. Aber das ist wieder nur für einen engen Geschichtshorizont eine einzigartige Erscheinung. Alle magischen Nationen befinden sich seit den Kreuzzügen auf dieser Stufe. Die Parsen besitzen in Indien genau dieselbe geschäftliche Macht wie die Juden in der

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