Der Untergang des Abendlandes
Lebenshaltung, Beruf, Sprache heftet, und beide Teile, so oft diese Lage bisher eingetreten ist, verzehrt, verdorben und zu blutigen Ausbrüchen getrieben hat. [Dahin gehören außer dem Befehl des Mithridates das Gemetzel auf Cypern (Bd. II, S. 796 f.), der Seapoyaufstand in Indien, der Boxeraufstand in China und das bolschewistische Wüten der Juden, Letten und anderer Fremdvölker gegen das zarische Russentum.] Das gilt vor allem auch für die Religiosität der faustischen Welt, die sich von einer fremden Metaphysik in ihrer Mitte bedroht, gehaßt, untergraben fühlt. Was ist seit den Reformen Hugos von Cluny, dem heiligen Bernhard, dem Lateranskonzil von 1215 über Luther, Calvin und den Puritanismus bis zur Aufklärung durch unser Wachsein gegangen, während es für die jüdische Religion längst keine Geschichte mehr gab! Innerhalb des westeuropäischen
consensus
hat 1565 Josef Karo im Schulchan Aruch denselben Stoff noch einmal und anders zusammengefaßt wie ehemals Maimonides, aber es hätte auch 1400 oder 1800 geschehen oder ganz unterbleiben können. Mit der Starrheit des heutigen Islam und des byzantinischen Christentums seit den Kreuzzügen, aber auch des späten Chinesentums und des Ägyptizismus bleibt alles formelhaft und gleich, die Speiseverbote, die Schaufäden an den Kleidern, die Gebetsriemen, die Denkzettel und die talmudische Kasuistik, die genau in dieser Form seit Jahrhunderten auch in Bombay am Vendidad und in Kairo am Koran geübt wird. Und ebenso ist die jüdische Mystik, die
reiner Sufismus
ist, seit den Kreuzzügen dieselbe geblieben, ganz wie die islamische, und sie hat in den letzten Jahrhunderten noch drei Heilige im Sinne des morgenländischen Sufismus hervorgebracht, die man als solche nur erkennt, wenn man durch den Anflug abendländischer Denkformen hindurchzusehen vermag.
Spinoza
ist mit seinem Denken in Substanzen, statt in Kräften und seinem durch und durch magischen Dualismus durchaus den letzten Nachzüglern der islamischen Philosophie vergleichbar wie Murtada und Schirazi. Er bedient sich der ganzen Begriffssprache des ihn umgebenden abendländischen Barock und hat sich in dessen Vorstellungsweise bis zur vollkommenen Selbsttäuschung hineingelebt, aber die Herkunft von Maimonides und Avicenna und die talmudische Methode »
more geometrico
« bleiben von allem, was über die Oberfläche seiner Seele hinwegging, ganz unberührt. In dem Baalschem, dem Stifter der Chassidensekte, der um 1698 in Wolhynien geboren wurde, ist ein echter Messias aufgestanden, der lehrend und Wunder vollbringend durch die Welt der polnischen Ghettos wanderte und für den nur das Urchristentum als Vergleich herangezogen werden kann; [P. Levertoff, Die religiöse Denkweise der Chassidim (1918), S. 128 ff.; M. Buber, Die Legende des Baalschem, 1907.] diese aus uralten Strömungen magischer, kabbalistischer Mystik hervorgegangene Bewegung, welche den größten Teil der Ostjuden ergriffen hat, ohne Zweifel etwas Gewaltiges in der Religionsgeschichte der arabischen Kultur, ist mitten unter einem andersartigen Menschentum verlaufen und doch von diesem so gut wie nicht bemerkt worden. Der friedliche Kampf des Baalschem gegen die damaligen Pharisäer des Talmud und für einen innerweltlichen Gott, seine christusartige Gestalt, die reiche Legende, die sehr bald um seine Person und die seiner Jünger gesponnen worden ist, das ist alles von rein magischem Geiste und uns abendländischen Menschen im letzten Grunde so fremd wie das Urchristentum selbst. Die Gedankengänge der chassidischen Schriften sind dem Nichtjuden so gut wie unverständlich, aber auch der Ritus. In der Erregung der Andacht geraten die einen in Verzückung, andere beginnen wie die Derwische des Islam zu tanzen. [Levertoff, S. 136.] Die ursprüngliche Lehre des Baalschem hat einer der Apostel zum Zaddikismus weiter entwickelt, und auch dieser Glaube an Heilige (Zaddiks), die nacheinander von Gott herabgesandt werden und durch ihre bloße Nähe Erlösung bringen, erinnert wieder an den islamischen Mahdismus und noch viel mehr an die schiitische Lehre von den Imamen, in denen das »Licht des Propheten« Herberge genommen hat. Ein andrer Jünger, Salomon Maimon, von dem es eine merkwürdige Selbstbiographie gibt, ging von dem Baalschem zu Kant, dessen abstrakte Denkart auf talmudische Geister immer eine ungeheure Anziehungskraft ausgeübt hat. Der dritte ist Otto
Weininger
, dessen moralischer Dualismus eine rein magische Konzeption und dessen
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