Der Untergang des Abendlandes
Tod in einem magisch durchlebten Seelenkampf zwischen Gut und Böse einer der erhabensten Augenblicke spätester Religiosität ist. [O. Weininger, Taschenbuch (1919), vor allem S. 19 ff.] Etwas Verwandtes können Russen erleben, aber weder der antike noch der faustische Mensch ist dessen fähig.
Mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts wird auch die abendländische Kultur großstädtisch und intellektuell und damit plötzlich der Intelligenz des consensus zugänglich. Und dieses Versetztsein mitten in eine Epoche, die für den innerlich längst abgestorbenen Daseinsstrom des sephardischen Judentums einer fernen Vergangenheit angehört, aber doch in ihm ein verwandtes Gefühl erwecken mußte, soweit sie kritisch und verneinend war, hat in verhängnisvoller Weise verführerisch gewirkt, den geschichtlich fertigen und jeder organischen Entwicklung unfähigen Zusammenhalt in die große Bewegung der Wirtsvölker hineingezogen, ihn erschüttert, gelockert und bis in die Tiefe hinein zersetzt und vergiftet. Denn für den faustischen Geist war die Aufklärung ein Schritt vorwärts auf der eigenen Bahn, über Trümmer hin, gewiß, aber doch im letzten Grund bejahend; für das Judentum ist sie Zerstörung und nichts andres, Abbau von etwas Fremdem, das es nicht begreift. Sehr oft bietet sich dann ein Schauspiel, das auch der Parse in Indien, der Chinese und Japaner in einer christlichen Umgebung und der moderne Amerikaner in China geben: Aufklärung bis zum Zynismus und schroffster Atheismus gegenüber der fremden Religion, während die fellachenhaften Bräuche der eignen davon ganz unberührt bleiben. Es gibt jüdische Sozialisten, die nach außen, und zwar mit Überzeugung jede Art von Religion bekämpfen, für sich aber die Speiseverbote und das Ritual der Gebetsriemen und Denkzettel ängstlich beobachten. Häufiger ist der wirkliche innere Zerfall mit dem consensus, soweit er ein Zusammenhang des Glaubens ist, ein Schauspiel wie das jener indischen Studenten, die eine englische Universitätsbildung mit Locke und Mill erhalten haben und nun mit der gleichen zynischen Verachtung auf indische wie auf abendländische Überzeugungen herabsehen und an ihrer innern Zersetzung endlich selbst zugrunde gehen müssen. Seit der napoleonischen Zeit hat sich der altzivilisierte consensus mit der neuzivilisierten abendländischen »Gesellschaft« der Städte unter deren Widerspruch vermischt, und ihre wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Methoden mit der Überlegenheit des Alters in Gebrauch genommen. Ganz dasselbe hat einige Generationen später die japanische, ebenfalls sehr alte Intelligenz getan, vielleicht mit noch größerem Erfolge. Ein andres Beispiel sind die Karthager, Nachzügler der babylonischen Zivilisation, die schon von der etruskisch-dorischen Stufe der antiken Kultur angezogen wurden und endlich dem Hellenismus ganz erlegen sind, [Ihr Schiffswesen war zur Römerzeit eher antik als phönikisch, ihr Staat war als Polis organisiert, und unter den Gebildeten wie Hannibal war das Griechische allgemein verbreitet.] in allem Religiösen und Künstlerischen starr und fertig, aber geschäftlich den Griechen und Römern weit voraus, und ihnen deshalb bis zum äußersten verhaßt.
Nicht weil die Metaphysik beider Kulturen sich näher gekommen wäre – das ist ganz unmöglich –, sondern weil sie in den wurzellosen Intelligenzen der Oberschicht auf beiden Seiten keine Rolle mehr spielt, ist diese magische Nation in Gefahr, mit dem Ghetto und der Religion selbst zu verschwinden. Sie hat alle Arten von innerlichem Zusammenhalt verloren und ist lediglich als Zusammenhalt in praktischen Fragen übriggeblieben. Aber der Vorsprung, den das uralte geschäftliche Denken dieser magischen Nation besaß, wird geringer; dem Amerikaner gegenüber ist er kaum noch vorhanden, und damit verschwindet das letzte starke Mittel, den mit dem Lande zerfallenen consensus aufrecht zu erhalten. In dem Augenblick, wo die zivilisierten Methoden der europäisch-amerikanischen Weltstädte zur vollen Reife gelangt sein werden, ist wenigstens innerhalb dieser Welt – die russische bildet ein Problem für sich – das Schicksal des Judentums erfüllt.
Der Islam hat Boden unter sich. Er hat den persischen, jüdischen, nestorianischen und monophysitischen consensus so gut wie ganz in sich aufgenommen. [Vgl. Bd. II, S. 880f.] Der Rest der byzantinischen Nation, die heutigen Griechen, sitzen auch auf eignem Land. Der Rest der Parsen in Indien wohnt innerhalb
Weitere Kostenlose Bücher