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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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ihren ekliptischen Koordinatensystemen, die beide in einer großen Stunde der Geschichte einmal geboren wurden und damals längst erloschen waren. Die im 2. Jahrhundert v. Chr. vollendete antike Mathematik verschwand aus der Welt trotz ihres in unsrer Bezeichnungsweise noch heute währenden Scheindaseins, um der arabischen in der Ferne Platz zu machen. Was wir von der alexandrinischen Mathematik wissen, setzt eine große Bewegung auf diesem Gebiete voraus, deren Schwerpunkt durchaus in den persisch-babylonischen Hochschulen wie Edessa, Dschondisabur und Ktesiphon gelegen haben muß, und die nur mit Einzelheiten in das antike Sprachgebiet hinübergriff. Die Mathematiker in Alexandria sind trotz ihrer griechischen Namen – Zenodoros, der die isoperimetrischen Figuren behandelte, Serenos, der mit den Eigenschaften eines harmonischen Strahlenbüschels im Raum arbeitete, Hypsikles, der die chaldäische Kreisteilung eingeführt hat, und vor allem Diophant – zweifellos sämtlich Aramäer und ihre Schriften nur ein kleiner Teil einer vorwiegend syrisch geschriebenen Literatur. [Vgl. Bd. II, S. 770, 798.] Diese Mathematik fand in der arabisch-islamischen Forschung ihren Abschluß, und es folgte nach langer Zwischenzeit, wieder als eine ganz neue Schöpfung eines neuen Bodens, die abendländische,
unsere
Mathematik, die wir in seltsamer Verblendung als
die
Mathematik, den Gipfel und das Ziel einer zweitausendjährigen Entwicklung, ansehen und deren heute fast abgelaufene Jahrhunderte ebenso streng bemessen sind.
    Jener Ausspruch, daß die Zahl das Wesen aller
sinnlich greifbaren
Dinge darstelle, ist der wertvollste der antiken Mathematik geblieben. Mit ihm ist die Zahl als Maß definiert worden. Darin liegt das ganze Weltgefühl einer dem
Jetzt und Hier
leidenschaftlich zugewendeten Seele. Messen in diesem Sinne heißt etwas Nahes und Körperhaftes messen. Denken wir an den Inbegriff des antiken Kunstwerkes, die freistehende Bildsäule eines nackten Menschen: hier ist alles Wesentliche und Bedeutsame des Daseins, dessen ganzer Rhythmus, erschöpfend durch Flächen, Maße und die sinnlichen Verhältnisse der Teile gegeben. Der pythagoräische Begriff der Harmonie der Zahlen, obwohl vielleicht aus einer Musik abgeleitet, welche die Polyphonie und Harmonie nicht kannte und durch die Ausbildung ihrer Instrumente einen pastosen, fast körperhaften Einzelton anstrebte, scheint durchaus für das Ideal dieser Plastik geprägt zu sein. Der behandelte Stein ist nur insofern ein Etwas, als er abgewogene Grenzen und gemessene Form besitzt, als das, was er unter dem Meißel des Künstlers
geworden
ist. Abgesehen davon ist er
Chaos
, etwas noch nicht Verwirklichtes, vorläufig also ein Nichts. Dies Gefühl, ins Große übertragen, schafft als Gegensatz zum Zustand des Chaos den des
Kosmos
, die abgeklärte Lage in der Außenwelt der antiken Seele, die harmonische Ordnung aller wohlbegrenzten und greifbar gegenwärtigen Einzeldinge. Die Summe dieser Dinge ist bereits die
ganze
Welt. Der Abstand zwischen ihnen,
unser
mit dem ganzen Pathos eines großen Symbols erfüllter Weltraum, ist nichts, το μη ον Ausdehnung heißt für den antiken Menschen Körperlichkeit, für uns Raum, als dessen Funktion die Dinge »erscheinen«. Von hier aus rückwärts blickend enträtseln wir vielleicht den tiefsten Begriff der antiken Metaphysik, das απειρον Anaximanders, das sich in keine Sprache des Abendlandes übersetzen läßt: es ist das, was keine »Zahl« im pythagoräischen Sinne besitzt, keine gemessene Größe und Grenze, kein Wesen also;
das Maßlose, die Unform
, eine Statue, die noch nicht aus dem Blocke herausgemeißelt ist. Dies ist die αρχη, das optisch Grenzen- und Formlose, das erst durch Grenzen, durch sinnliche Vereinzelung ein Etwas, die Welt nämlich, wird. Es ist das, was der antiken Erkenntnis als Form a priori zugrunde liegt, Körperlichkeit an sich, und an dessen Stelle im kantischen Weltbilde genau entsprechend der Raum erscheint, aus dem Kant sich angeblich »alle Dinge fortdenken konnte«.
    Man wird jetzt begreifen, was eine Mathematik von der andern, was insbesondere die antike von der abendländischen scheidet. Das reife antike Denken konnte seinem ganzen Weltgefühl nach in der Mathematik nur die Lehre von den Größen-, Maß- und Gestaltverhältnissen leibhafter Körper sehen. Wenn Pythagoras aus diesem Gefühl heraus die entscheidende Formel aussprach, so war eben für ihn die Zahl ein
optisches
Symbol, nicht

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