Der Untergang des Abendlandes
Form überhaupt oder abstrakte Beziehung, sondern das Grenzzeichen des Gewordenen, insofern dieses in sinnlich übersehbaren Einzelheiten auftritt. Zahlen werden von der gesamten Antike ohne Ausnahme als Maßeinheiten, als Größen, Strecken, Flächen aufgefaßt. Eine andere Art Ausdehnung ist ihr nicht vorstellbar. Alle antike Mathematik ist im letzten Grunde
Stereometrie
. Euklid, der im 3. Jahrhundert ihr System abschloß, meint, wenn er von einem Dreieck spricht, mit innerster Notwendigkeit die Grenzfläche eines Körpers, niemals ein System dreier sich schneidender Geraden oder eine Gruppe dreier Punkte im Raum von drei Dimensionen. Er bezeichnet die Linie als »Länge ohne Breite« (μηχοσ απλατεσ). In unserm Munde würde diese Definition kläglich sein. Innerhalb der antiken Mathematik ist sie ausgezeichnet.
Auch die abendländische Zahl ist nicht, wie Kant und selbst Helmholtz dachten, aus der Zeit als einer Form a priori der Anschauung hervorgegangen, sondern als Ordnung gleichartiger Einheiten etwas spezifisch Räumliches. Die wirkliche Zahl hat, wie sich immer deutlicher zeigen wird, mit mathematischen Dingen nicht das Geringste zu tun. Zahlen gehören ausschließlich in die Sphäre des Ausgedehnten. Aber es gibt so viele Möglichkeiten und also Notwendigkeiten, Ausgedehntes geordnet vorzustellen, als es Kulturen gibt. Die antike Zahl ist nicht ein Denken räumlicher Beziehungen, sondern
für das leibliche Auge
abgegrenzter, greifbarer Einheiten. Die Antike kennt deshalb – das folgt mit Notwendigkeit – nur die
»natürlichen« (positiven, ganzen)
Zahlen, die unter den vielen, äußerst abstrakten Zahlenarten der abendländischen Mathematik, den komplexen, hyperkomplexen, nichtarchimedischen u. a. Systemen eine durch nichts ausgezeichnete Rolle spielen.
Deshalb ist die Vorstellung irrationaler Zahlen, in unserer Schreibweise also unendlicher Dezimalbrüche, dem griechischen Geist unvollziehbar geblieben. Euklid sagt – und man hätte ihn besser verstehen sollen –, daß inkommensurable Strecken sich
»nicht wie Zahlen«
verhalten. In der Tat liegt im vollzogenen Begriff der irrationalen Zahl die völlige Trennung des
Zahlbegriffs
vom Begriff der
Größe
und zwar deshalb, weil eine solche Zahl, π z. B., niemals abgegrenzt oder exakt durch eine Strecke dargestellt werden kann. Daraus folgt aber, daß in der Vorstellung etwa des Verhältnisses der Quadratseite zur Diagonale die antike Zahl, die durchaus
sinnliche
Grenze,
abgeschlossene Größe
ist, plötzlich an eine ganz andere Art der Zahl rührt, die dem antiken Weltgefühl im tiefsten Innern fremd und darum unheimlich bleibt, als sei man nahe daran, ein gefährliches Geheimnis des eignen Daseins aufzudecken. Dies verrät ein seltsamer spätgriechischer Mythos, wonach derjenige, welcher zuerst die Betrachtung des Irrationalen aus dem Verborgnen an die Öffentlichkeit brachte, durch einen Schiffbruch umgekommen sei, »weil das Unaussprechliche und Bildlose immer verborgen bleiben solle«. Wer die Angst fühlt, welche diesem Mythos zugrunde liegt – es ist dieselbe, welche den Griechen der reifsten Zeit vor der Ausdehnung seiner winzigen Stadtstaaten zu politisch organisierten Landschaften, vor der Anlage weiter Straßenfluchten und Alleen mit Fernblicken und berechneten Abschlüssen, vor der babylonischen Astronomie mit ihrer Durchdringung endloser Sternenräume und vor dem Verlassen des Mittelmeeres auf Bahnen, welche die Schiffe der Ägypter und Phöniker längst erschlossen hatten, immer wieder zurückschrecken ließ; es ist die tiefe metaphysische Angst vor der Auflösung des Greifbar-Sinnlichen und Gegenwärtigen, mit dem sich das antike Dasein wie mit einer Schutzmauer umgeben hatte, hinter der etwas Unheimliches, ein Abgrund und Urgrund dieses gewissermaßen künstlich geschaffenen und behaupteten Kosmos schlief –, wer dies Gefühl begreift, der hat auch den letzten Sinn der antiken Zahl,
des Maßes im Gegensatz zum Unermeßlichen
, und das hohe religiöse Ethos in ihrer Beschränkung begriffen. Goethe als Naturforscher hat es sehr wohl gekannt – daher seine fast ängstliche Auflehnung gegen die Mathematik, die sich in Wirklichkeit, was noch niemand recht verstanden hat, unwillkürlich durchaus gegen die
nichtantike
Mathematik, die der Naturlehre seiner Zeit zugrunde liegende Infinitesimalrechnung richtete.
Die antike Religiosität sammelt sich mit steigendem Nachdruck in sinnlich gegenwärtigen –
ortsgebundenen
– Kulten,
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