Der Untergang des Abendlandes
die allein einem »euklidischen« Göttertum entsprechen. Abstrakte, in den heimatlosen Räumen des Denkens schwebende
Dogmen
sind ihm immer fern geblieben. Ein solcher Kult und ein päpstliches Dogma verhalten sich wie die Statue zur Orgel im Dom. Es haftet der euklidischen Mathematik zweifellos etwas Kultisches an. Man denke an die Geheimlehre der Pythagoräer und an die Lehre von den regelmäßigen Polyedern mit ihrer Bedeutung für die Esoterik des platonischen Kreises. Dem entspricht andrerseits eine tiefe Verwandtschaft der Analysis des Unendlichen von Descartes an mit der gleichzeitigen Dogmatik in ihrem Fortschreiten von den letzten Entscheidungen der Reformation und Gegenreformation bis zu einem reinen, von allen sinnlichen Bezügen gelösten Deismus. Descartes und Pascal waren Mathematiker
und
Jansenisten. Leibniz war Mathematiker
und
Pietist. Voltaire, Lagrange und d'Alembert sind Zeitgenossen. Man empfand aus dem antiken Seelentum heraus das Prinzip des Irrationalen, also die Zerstörung der statuarischen Reihe der ganzen Zahlen, der Repräsentanten einer in sich vollkommenen Weltordnung, als einen Frevel gegen das Göttliche selbst. Bei Plato, im »Timäus«, ist dies Gefühl unverkennbar. Mit der Verwandlung der diskontinuierlichen Zahlenreihe in ein Kontinuum wird in der Tat nicht nur der antike Zahlbegriff, sondern der Begriff der antiken Welt selbst in Frage gestellt. Man versteht nun, daß nicht einmal die uns ohne Schwierigkeit vorstellbaren
negativen
Zahlen, geschweige denn die
Null als Zahl
– eine grüblerische Schöpfung von bewunderungswürdiger Energie der Entsinnlichung, welche für die indische Seele, die sie als Grundlage des Positionssystems der Ziffern konzipiert hat, geradezu den Schlüssel zum Sinn des Seins bildet – in der antiken Mathematik möglich ist. Negative
Größen
gibt es nicht. Der Ausdruck — 2 x — 3 = + 6 ist weder anschaulich noch eine Größenvorstellung. Mit + 1 ist die Größenreihe zu Ende. In der graphischen Darstellung negativer Zahlenwerden von Null an die Strecken plötzlich
positive Symbole
von etwas Negativem. Sie
bedeuten
etwas, sie
sind
nichts mehr. Die Vollziehung dieses Aktes lag aber nicht in der Richtung des antiken Zahlendenkens.
Alles aus antikem Wachsein Geborene ist also allein durch plastische Begrenztheit zum Range eines Wirklichen erhoben worden. Was sich nicht zeichnen läßt, ist nicht »Zahl«. Plato, Archytas und Eudoxos reden von Flächen- und Körperzahlen, wenn sie unsere zweiten und dritten Potenzen meinen, und es versteht sich von selbst, daß der Begriff höherer ganzzahliger Potenzen für sie nicht vorhanden ist. Eine Potenz vierten Grades würde aus dem plastischen Grundgefühl, das diesem Ausdruck sofort eine vierdimensionale, und zwar stoffliche Ausgedehntheit unterlegt, Unsinn sein. Ein Ausdruck gar wie e§ -ix , der in unsern Formeln ständig erscheint, oder auch nur die schon im 14. Jahrhundert von Nicolas Oresme verwandte Bezeichnung 5§½ wären ihnen völlig absurd erschienen. Euklid nennt die Faktoren eines Produkts Seiten πλευραι. Man rechnet mit Brüchen – endlichen, wie sich versteht –, indem man das ganzzahlige Verhältnis zweier Strecken untersucht. Eben deshalb kann die Vorstellung von einer Zahl Null gar nicht entstehen, denn sie hat zeichnerisch keinen Sinn. Man wende nicht von der Gewöhnung unseres anders angelegten Denkens her ein, daß dies eben die »Urstufe« in der Entwicklung »der« Mathematik sei. Die antike Mathematik ist innerhalb der Welt, welche der antike Mensch um sich herum schuf, etwas Vollkommenes. Sie ist es nur nicht
für uns
. Die babylonische und die indische Mathematik hatten das für das antike Zahlengefühl Unsinnige längst zu wesentlichen Bestandteilen ihrer Zahlenwelten gemacht, und mancher griechische Denker wußte darum. »Die« Mathematik, es sei noch einmal gesagt, ist eine Illusion. Richtig, überzeugend, »denknotwendig« ist eine mathematische und überhaupt eine wissenschaftliche Denkweise, wenn sie vollkommen dem eigenen Lebensgefühl entspricht. Andernfalls ist sie unmöglich, verfehlt, unsinnig, oder, wie wir mit dem Hochmut historischer Geister zu sagen vorziehen, »primitiv«. Die moderne Mathematik, ein Meisterstück des abendländischen Geistes – »wahr« allerdings nur für ihn –, wäre Plato als lächerliche und mühselige Verirrung auf dem Wege erschienen, der
wahren
Mathematik, der antiken nämlich, beizukommen; wir machen uns sicherlich kaum eine
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