Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
Vom Netzwerk:
Perspektive – dieser gefühlten Geometrie des Bildraumes – ins Leben rufen, ergreifen, durchdringen möchte. Sie ist das, was Goethe
die Idee
nannte,
deren Gestalt im Sinnlichen unmittelbar angeschaut werde
, während die bloße Wissenschaft nicht anschaue, sondern nur beobachte und zergliedere. Aber die Mathematik geht über Beobachten und Zergliedern hinaus. Sie verfährt in ihren höchsten Augenblicken visionär, nicht abstrahierend. Von Goethe stammt auch das tiefe Wort, daß der Mathematiker nur insofern vollkommen sei, als er das
Schöne des Wahren
in sich empfinde. Hier wird man fühlen, wie nahe das Geheimnis im Wesen der Zahl dem Geheimnis der künstlerischen Schöpfung liegt. Damit tritt der geborene Mathematiker neben die großen Meister der Fuge, des Meißels und des Pinsels, die ebenfalls jene große Ordnung aller Dinge, die der bloße Mitmensch ihrer Kultur in sich trägt, ohne sie wirklich zu besitzen, in Symbole kleiden, verwirklichen, mitteilen wollen und müssen. Damit wird das Reich der Zahlen zum Abbild der Weltform neben dem Reich der Töne, Linien und Farben. Deshalb bedeutet das Wort »schöpferisch« im Mathematischen mehr als in den bloßen Wissenschaften. Newton, Gauß, Riemann waren künstlerische Naturen. Man lese nach, wie ihre großen Konzeptionen sie plötzlich überfielen. »Ein Mathematiker«, meinte der alte Weierstraß, »der nicht zugleich ein Stück von einem Poeten ist, wird niemals ein vollkommener Mathematiker sein.«
    Mathematik ist also
auch eine Kunst
. Sie hat ihre Stile und Stilperioden. Sie ist nicht, wie der Laie meint – auch der Philosoph, insofern er hier als Laie urteilt –, der Substanz nach unveränderlich, sondern wie jede Kunst von Epoche zu Epoche unvermerkten Wandlungen unterworfen. Man sollte die Entwicklung der großen Künste nie behandeln, ohne auf die gleichzeitige Mathematik einen gewiß nicht unfruchtbaren Seitenblick zu werfen. Einzelheiten in den sehr tiefen Beziehungen zwischen den Wandlungen der Musiktheorie und der Analysis des Unendlichen sind nie untersucht worden, obwohl die Ästhetik mehr daraus hätte lernen können als aus aller »Psychologie«. Noch aufschlußreicher würde eine Geschichte der Musikinstrumente sein, wenn sie nicht, wie es immer geschieht, von den technischen Gesichtspunkten der Tonerzeugung, sondern von den letzten seelischen Gründen der angestrebten Tonfarbe und -wirkung aus behandelt würde. Denn der bis zur Sehnsucht gesteigerte Wunsch, eine raumhafte Unendlichkeit von Klängen herauszubilden, hat im Gegensatz zur antiken Leier und Schalmei (Lyra, Kithara; Aulos, Syrinx) und zur arabischen Laute schon in gotischer Zeit die beiden herrschenden Familien der Orgel (Klavier) und Streichinstrumente hervorgebracht. Beide sind, welches auch ihre technische Herkunft gewesen sein mag, ihrer Tonseele nach im keltisch-germanischen Norden zwischen Irland, Weser und Seine ausgebildet worden, Orgel und Klavichord sicherlich in England. Die Streichinstrumente haben 1480-1530 in Oberitalien ihre endgültige Gestalt erhalten; die Orgel hat sich hauptsächlich in Deutschland zu dem
raumbeherrschenden
Einzelinstrument von riesenhafter Größe entwickelt, das in der gesamten Musikgeschichte nicht seinesgleichen hat. Das freie Orgelspiel Bachs und seiner Zeit ist durchaus Analysis einer ungeheuren und weiträumigen Tonwelt. Und ebenso entspricht es der inneren Form des abendländischen und nicht des antiken mathematischen Denkens, wenn die Streich- und Blasinstrumente nicht einzeln, sondern nach den menschlichen Stimmlagen in ganzen Gruppen von gleicher Klangfarbe entwickelt werden (Streichquartett, Holzbläser, Posaunenchor), so daß die Geschichte des modernen Orchesters mit allen Erfindungen neuer und Verwandlungen alter Instrumente in Wirklichkeit
die Einheitsgeschichte einer Klangwelt
ist, die sich sehr wohl mit Ausdrücken der höheren Analysis beschreiben ließe.
5
    Als man im Kreise der Pythagoräer um 540 zu der Einsicht kam,
daß das Wesen aller Dinge die Zahl
sei, da wurde nicht »in der Entwicklung der Mathematik ein Schritt vorwärts getan«, sondern es wurde eine ganz neue Mathematik aus der Tiefe des antiken Seelentums geboren, als selbstbewußte Theorie, nachdem sie in metaphysischen Fragestellungen und künstlerischen Formtendenzen sich längst angekündigt hatte. Eine neue Mathematik, wie die stets ungeschrieben gebliebene der ägyptischen und wie die algebraisch-astronomisch gestaltete der babylonischen Kultur mit

Weitere Kostenlose Bücher