Der Untergang des Abendlandes
sowohl die
Urveränderlichkeit der Form
aller Geistestätigkeit als ihre
Identität für alle Menschen
voraus. Infolgedessen ist ein Umstand von gar nicht zu überschätzender Tragweite völlig übersehen worden, vor allem deshalb, weil Kant bei der Prüfung seiner Gedanken nur den geistigen Habitus seiner Zeit, um nicht zu sagen nur seinen eigenen, zu Rate zog. Er betrifft den
schwankenden Grad
dieser »Allgemeingültigkeit«. Neben gewissen Zügen von zweifellos weitreichender Geltung, die wenigstens scheinbar unabhängig davon sind, zu welcher Kultur, in welches Jahrhundert der Erkennende gehört, liegt allem Denken auch noch eine ganz andere Notwendigkeit der Form zugrunde, welcher der Mensch eben als Glied
einer bestimmten und keiner anderen Kultur mit Selbstverständlichkeit
unterworfen ist. Das sind zwei sehr verschiedene Arten des apriorischen Gehaltes und es ist eine nie zu beantwortende, weil jenseits aller Erkenntnismöglichkeiten liegende Frage, welches die Grenze zwischen ihnen ist und ob es eine solche überhaupt gibt. Daß die bisher als selbstverständlich geltende Konstanz der Geistesverfassung eine Illusion ist, daß es innerhalb der uns vorliegenden Geschichte mehr als einen
Stil des Erkennens
gibt, hat man bisher nicht anzunehmen gewagt. Aber es sei daran erinnert, daß Einstimmigkeit in Dingen, die noch gar nicht Problem geworden sind, nicht nur eine allgemeine Wahrheit, sondern auch eine allgemeine Selbsttäuschung beweisen kann. Ein dunkler Zweifel war allenfalls immer da und man hätte das Richtige schon aus der Nichtübereinstimmung sämtlicher Denker erschließen sollen, welche jeder Blick auf die Geschichte des Denkens offenbart. Aber daß diese nicht auf eine Unvollkommenheit des menschlichen Geistes, auf ein »Noch nicht« einer endgültigen Erkenntnis zurückgeht, kein Mangel, sondern eine schicksalhafte historische Notwendigkeit ist – das ist eine
Entdeckung
. Das Tiefste und Letzte kann nicht aus der Konstanz, sondern allein aus der
Verschiedenheit
, und zwar aus der
organischen Logik
dieser Verschiedenheit, erschlossen werden. Die
vergleichende Morphologie der Erkenntnisformen
ist eine Aufgabe, die dem abendländischen Denken noch vorbehalten ist.
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Wäre Mathematik eine bloße Wissenschaft wie die Astronomie oder Mineralogie, so würde man ihren Gegenstand definieren können. Man kann es nicht und hat es nie gekonnt. Mögen wir Westeuropäer auch den eigenen wissenschaftlichen Zahlbegriff gewaltsam auf das anwenden, was die Mathematiker in Athen und Bagdad beschäftigte, soviel ist sicher, daß Thema, Absicht und Methode der gleichnamigen Wissenschaft dort ganz andere waren.
Es gibt keine Mathematik, es gibt nur Mathematiken
. Was wir Geschichte »der« Mathematik nennen, vermeintlich die fortschreitende Verwirklichung eines einzigen und unveränderlichen Ideals, ist in der Tat, sobald man das täuschende Bild der historischen Oberfläche beseitigt, eine
Mehrzahl
in sich geschlossener, unabhängiger Entwicklungen, eine wiederholte Geburt neuer, ein Aneignen, Umbilden und Abstreifen fremder Formenwelten, ein rein organisches, an eine bestimmte
Dauer
gebundenes Aufblühen, Reifen, Welken und Sterben. Man lasse sich nicht täuschen. Der antike Geist schuf seine Mathematik fast aus dem Nichts; der historisch angelegte Geist des Abendlandes, der die
angelernte
antike Wissenschaft schon besaß – äußerlich, nicht innerlich –, mußte die eigne durch ein scheinbares Ändern und Verbessern, durch ein tatsächliches Vernichten der ihm wesensfremden euklidischen gewinnen. Das eine geschah durch Pythagoras, das andere durch Descartes. Beide Akte sind in der Tiefe
identisch
.
Die Verwandtschaft der Formensprache einer Mathematik mit derjenigen der benachbarten großen Künste [Und ebenso des Rechtes und des Geldes, vgl. Bd. II, S. 624 ff., 1175 f.] wird demnach keinem Zweifel unterliegen. Das Lebensgefühl von Denkern und Künstlern ist sehr verschieden, aber die Ausdrucksmittel ihres Wachseins sind innerlich von gleicher Form. Das Formempfinden des Bildhauers, Malers, Tondichters ist ein wesentlich mathematisches. In der geometrischen Analysis und der projektiven Geometrie des 17. Jahrhunderts offenbart sich dieselbe durchgeistigte Ordnung einer unendlichen Welt, welche die gleichzeitige Musik durch die aus der Kunst des Generalbasses entwickelte Harmonik – diese Geometrie des Tonraumes –, welche die ihr verschwisterte Ölmalerei durch das Prinzip einer
nur dem Abendland
bekannten
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