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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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daß zum erstenmal die abstrakten Wahrheiten in den Bereich der Tatsachen einzugreifen suchen. Die Hauptstädte sind so groß geworden und der städtische Mensch so überlegen in seinem Einfluß auf das Wachsein der gesamten Kultur –
dieser Einfluß heißt öffentliche Meinung
–, daß die Mächte des Blutes und der im Blut liegenden Tradition in ihrer bis dahin unangreifbaren Stellung erschüttert werden. Denn man bedenke, daß gerade der Barockstaat und die absolute Polis in der letzten Vollendung ihrer Form durch und durch lebendiger Ausdruck einer Rasse sind und die Geschichte, so wie sie sich in dieser Form vollzieht, den vollkommenen Takt dieser Rasse besitzt. Wenn es hier eine Staatstheorie gibt, so ist sie aus den Tatsachen abgezogen und beugt sich vor deren Größe. Die Idee des Staates hatte endlich das Blut der ersten Stände gebändigt und ganz, ohne Rest, in ihren Dienst gestellt. Absolut – das bedeutet, daß der große Daseinsstrom
als Einheit
in Form ist,
eine
Art von Takt und Instinkt besitzt, möge er als diplomatischer oder strategischer Takt, als vornehme Sitte oder als erlesener Geschmack an Künsten und Gedanken in Erscheinung treten.
    Im Widerspruch zu dieser großen Tatsache breitet sich nun der Rationalismus aus, jene
Wachseinsgemeinschaft der Gebildeten
[Vgl. Bd. II, S. 669, 935 f.] deren Religion in Kritik besteht und deren Numina nicht Gottheiten sind, sondern Begriffe. Jetzt gewinnen Bücher und allgemeine Theorien Einfluß auf die Politik, im China des Laotse wie im sophistischen Athen und zur Zeit Montesquieus, und die von ihnen gestaltete öffentliche Meinung tritt als politische Größe von ganz neuer Art der Diplomatie in den Weg. Es würde eine sinnlose Annahme sein, daß Peisistratos oder Richelieu oder selbst Cromwell ihre Entschlüsse unter der Einwirkung abstrakter Systeme gefaßt hätten, aber seit dem Sieg der Aufklärung ist das der Fall.
    Allerdings ist die geschichtliche Rolle der großen zivilisierten Begriffe sehr verschieden von der Beschaffenheit, die sie innerhalb der gelehrten Ideologien selbst besitzen. Die Wirkung einer Wahrheit ist immer ganz anders als ihre Tendenz. In der Tatsachenwelt sind Wahrheiten nur
Mittel
, insofern sie die Geister beherrschen und damit die Handlungen bestimmen. Nicht ob sie tief, richtig oder auch nur logisch sind, sondern ob sie wirksam sind, entscheidet über ihren geschichtlichen Rang. Ob man sie mißversteht oder überhaupt nicht zu verstehen vermag, ist vollkommen gleichgültig. Das liegt in der Bezeichnung
Schlagwort
. Was für die großen Frühreligionen einige zum Erlebnis gewordene Symbole sind, wie das Heilige Grab für die Kreuzfahrer oder die Substanz Christi für die Zeit des Konzils von Nikäa, das sind zwei oder drei begeisternde Wortklänge für jede zivilisierte Revolution. Allein die Schlagworte sind Tatsachen; der Rest aller philosophischen oder sozialethischen Systeme kommt für die Geschichte nicht in Betracht. Aber als solche sind sie für etwa zwei Jahrhunderte Mächte ersten Ranges und erweisen sich stärker als der Takt des Blutes, der innerhalb der steinernen Welt ausgebreiteter Städte matt zu werden beginnt.
    Aber – der kritische Geist ist nur
eine
der beiden Tendenzen, die sich aus der ungeordneten Masse des Nichtstandes herausheben. Neben den abstrakten Begriffen erscheint das abstrakte, von den Urwerten des Landes abgelöste Geld, neben der Denkerstube das Kontor als politische Macht. Beide sind innerlich verwandt und untrennbar. Es ist der frühe Gegensatz von Priestertum und Adel, der mit ungeminderter Schärfe innerhalb des Bürgertums in städtischer Fassung fortbesteht. [Vgl. Bd. II, S. 990£., 1002f.] Und zwar erweist sich das Geld als reine Tatsache den idealen Wahrheiten unbedingt überlegen, die wie gesagt nur als Schlagworte, als Mittel für die Tatsachenwelt vorhanden sind. Versteht man unter Demokratie die Form, welche der dritte Stand als solcher dem gesamten öffentlichen Leben zu geben wünscht, so muß hinzugefügt werden, daß Demokratie und Plutokratie gleichbedeutend sind. Sie verhalten sich wie der Wunsch zur Wirklichkeit, wie Theorie zur Praxis, wie die Erkenntnis zum Erfolg. Es ist das Tragikomische an dem verzweifelten Kampf, den Weltverbesserer und Freiheitslehrer auch gegen die Wirkung des Geldes führen, daß sie es eben damit unterstützen. Zu den Standesidealen des Nichtstandes gehört sowohl die Achtung vor der großen Zahl, wie sie in den Begriffen der Gleichheit aller,

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