Der Untergang des Abendlandes
Form fühlt. Eine in ihrer Disziplin erschütterte Truppe räumt den Führern des Zufalls und Augenblicks freiwillig eine Macht ein, die der legitimen Führung weder dem Umfang noch dem Wesen nach erreichbar ist und als legitim auch gar nicht ertragen werden könnte. Aber das, ins Große übertragen, ist die Lage zu Beginn jeder Zivilisation. Nichts ist für das Sinken der politischen Form bezeichnender als
die Heraufkunft formloser Gewalten
, die man nach ihrem berühmtesten Fall als
Napoleonismus
bezeichnen kann. Wie vollständig war noch das Dasein Richelieus und Wallensteins in das unerschütterliche Herkommen ihrer Zeit gebunden! Wie formvoll ist die englische Revolution gerade unter der Decke äußerer Unordnung! Hier steht es umgekehrt. Die Fronde kämpft
um
die Form, der absolute Staat
in
ihr, das Bürgertum
gegen
sie. Nicht daß eine verjährte Ordnung zertrümmert wird, ist neu. Das haben Cromwell und die Häupter der ersten Tyrannis auch getan. Sondern daß hinter den Ruinen der sichtbaren keine unsichtbare Form mehr steht, daß Robespierre und Bonaparte nichts um sich und in sich finden, was die
selbstverständliche
Grundlage jeder Neugestaltung bleibt, daß statt einer Regierung der großen Tradition und Erfahrung ein Zufallsregiment unvermeidlich wird, dessen Zukunft nicht mehr durch die Eigenschaften einer langsam herangezüchteten Minderheit gesichert ist, sondern ganz davon abhängt, ob sich gerade ein Nachfolger von Bedeutung findet – das kennzeichnet diese Zeitwende und gibt den Staaten, die sich eine Tradition länger als andere zu erhalten wissen, auf Generationen hin ihre ungeheure Überlegenheit.
Die erste Tyrannis hatte mit Hilfe des Nichtadels die Polis vollendet; der Nichtadel hat sie mit Hilfe der zweiten Tyrannis zerstört. Mit der bürgerlichen Revolution des vierten Jahrhunderts geht sie als Idee zugrunde, mochte sie als Einrichtung, als Gewohnheit, als Werkzeug der jeweiligen Gewalt auch fortbestehen. Der antike Mensch hat niemals aufgehört, in ihrer Form politisch zu denken und zu leben, aber ein mit heiliger Scheu verehrtes Sinnbild war sie für die Menge nicht mehr, so wenig wie die abendländische Monarchie von Gottes Gnaden, seit Napoleon nahe daran gewesen war, »seine Dynastie zur ältesten von Europa zu machen«.
Auch in dieser Revolution gibt es wie immer in der Antike nur örtliche und augenblickliche Lösungen, nichts wie der prachtvolle Bogen, in dem die französische Revolution mit dem Bastillesturm aufsteigt und bei Waterloo endet; und die Szenen sind um so grauenvoller, als das euklidische Grundgefühl dieser Kultur nur ganz körperhafte Zusammenstöße der Parteien und statt der funktionalen Einordnung der unterlegenen in die siegreiche nur deren Ausrottung möglich erscheinen läßt. In Korkyra (427) und Argos (370) wurden die Besitzenden in Masse erschlagen, in Leontinoi (422) trieben diese die Unterklasse aus der Stadt und wirtschafteten mit Sklaven, bis sie aus Furcht vor einer Rückkehr die Stadt überhaupt preisgaben und nach Syrakus übersiedelten. Die Flüchtlinge aus Hunderten solcher Revolutionen überschwemmten alle antiken Städte, füllten die Söldnerheere der zweiten Tyrannis und machten die Landstraßen und Meere unsicher. Unter den Friedensgeboten der Diadochen und später der Römer erscheint beständig die Wiederaufnahme der vertriebenen Volksteile. Aber die zweite Tyrannis stützte sich selbst auf Akte dieser Art. Dionysios I. (405 bis 367) sicherte sich die Herrschaft über Syrakus, dessen vornehme Gesellschaft vor und neben der attischen der Mittelpunkt reifster hellenischer Kultur war – hier hat Aischylos um 470 seine Persertrilogie aufgeführt –, durch Massenhinrichtung der Gebildeten und Beschlagnahme aller Vermögen. Er hat dann die Einwohnerschaft ganz neu aufgebaut, oben durch Verleihung des großen Besitzes an seine Anhänger, unten durch Massenaufnahme von Sklaven, unter welche – wie anderswo – die Frauen und Töchter der ausgerotteten Oberschicht verteilt wurden, in den Bürgerstand. [Diodor XIV, 7. Das Schauspiel wiederholt sich 317, als Agathokles, ein ehemaliger Töpfer, seine Söldnerbanden und den Mob über die neue Oberschicht herfallen ließ. Nach dem Gemetzel trat »das Volk« der »gereinigten Stadt« zusammen und übertrug dem »Retter der wahren und echten Freiheit« die Diktatur: Diodor XIX, 6 ff. Über die ganze Bewegung: Busolt, Griech. Staatskunde, S. 396 ff., und Pöhlmann, Gesch. d. soz. Frage I, S. 416
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