Der Untergang des Abendlandes
niemand ahnte. Dagegen sind die abendländischen Verfassungen wohl durchdacht und in ihren Wirkungen genau berechnet worden, gleichviel ob die Rechnung falsch war oder nicht.] und Vorsorge und den Willen,
die ferne Zukunft
zu ordnen und zwar nach bürgerlichen Grundsätzen der Gegenwart.
Trotzdem ist der Parlamentarismus kein Gipfel wie die absolute Polis und der Barockstaat, sondern ein kurzer Übergang, nämlich von der Spätzeit mit ihren gewachsenen Formen zum Zeitalter der großen Einzelnen inmitten einer formlos gewordenen Welt. Er enthält einen Rest guten Barockstils wie die Häuser und Möbel aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die parlamentarische Sitte ist englisches Rokoko, aber nicht mehr selbstverständlich und im Blute liegend, sondern oberflächlich nachgeahmt und Sache des guten Willens. Nur in den kurzen Zeiten anfänglicher Begeisterung besitzt sie einen Schein von Tiefe und Dauer und nur deshalb, weil man eben gesiegt hatte und aus Achtung vor dem eignen Stand die guten Manieren der Besiegten sich zur Pflicht machte. Die Form zu wahren, auch wo sie dem Vorteil widerspricht: auf dieser Übereinkunft beruht die
Möglichkeit
des Parlamentarismus.
Dadurch, daß er erreicht ist, ist er eigentlich schon überwunden
. Der Nichtstand zerfällt wieder in natürliche Interessengruppen; das Pathos des leidenden und siegreichen Widerstandes ist zu Ende. Und sobald die Form nicht mehr die Anziehungskraft eines jungen Ideals besitzt, für das man auf die Barrikaden geht, erscheinen die außerparlamentarischen Mittel, um trotz der Abstimmung und ohne sie das Ziel zu erreichen: darunter das Geld, der wirtschaftliche Druck, vor allem der Streik. Weder die großstädtische Masse noch der starke Einzelne haben wahre Achtung vor dieser Form ohne Tiefe und Vergangenheit, und sobald man entdeckt, daß sie
nur
Form ist, ist sie auch schon Maske und Schatten geworden. Mit dem Anfang des 20. Jahrhunderts nähert sich der Parlamentarismus, auch der englische, mit schnellen Schritten der Rolle, die er selbst dem Königtum bereitet hat. Er wird ein eindrucksvolles Schauspiel für die Menge der Gläubigen, während der Schwerpunkt der großen Politik, wie er rechtlich von der Krone zur Volksvertretung hinüberging, nun aus dieser in Privatkreise und den Willen von Privatpersonen verlegt wird. Der Weltkrieg hat diese Entwicklung beinahe abgeschlossen. Von der Herrschaft Lloyd Georges führt kein Weg zum alten Parlamentarismus zurück und ebensowenig von dem Napoleonismus der französischen Militärpartei. Und für Amerika, das bis jetzt für sich dalag und eher ein Gebiet als ein Staat war, ist mit dem Eintritt in die Weltpolitik das einer Theorie von Montesquieu entstammende Nebeneinander von Präsidentschaft und Kongreß unhaltbar geworden und wird in Zeiten wirklicher Gefahr formlosen Gewalten Platz machen, wie sie Südamerika und Mexiko längst kennen gelernt haben.
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Damit ist der Eintritt in das Zeitalter der Riesenkämpfe vollzogen, in dem wir uns heute befinden. Es ist der Übergang vom Napoleonismus zum Cäsarismus, eine allgemeine Entwicklungsstufe vom Umfang wenigstens zweier Jahrhunderte, die in allen Kulturen nachzuweisen ist. Die Chinesen nennen sie
tschan-kuo
, [Aus den wenigen westeuropäischen Werken, die sich mit Fragen der altchinesischen Geschichte befassen, geht hervor, daß in der chinesischen Literatur sehr viel Material über diese der Gegenwart genau entsprechende Zeit mit ihren zahllosen Parallelen vorhanden ist, aber es fehlt an jeder politisch ernst zu nehmenden Behandlung. Z. folg. Hübotter, Aus den Plänen der kämpfenden Reiche (1912); Piton,
The six great chancellors of Tsin
, China Rev. XIII, S. 102, 255, 365; XIV, S. 3; Ed. Chavannes,
Mem. hist. de Se-ma-tsien,
1895 ff.; Pfizmair, Sitz. Wien. Ak. XLIII (1863) (Tsin), XLIV (Tsu); A. Tschepe,
Histoire du royaume de Ou
(1896),
de Tchou
(1903).] Zeit der kämpfenden Staaten (480–230, antik etwa 300–50). Am Anfang werden sieben Großmächte gezählt, die erst planlos, dann mit immer klarerem Blick für das unvermeidliche Endergebnis in diese dichte Folge von ungeheuren Kriegen und Revolutionen eintreten. Ein Jahrhundert später sind es noch fünf. 441 wird der Herrscher der Dschou-Dynastie zum Staatspensionär des »östlichen Herzogs«, und damit verschwindet der Rest von Land, den er besaß, aus der ferneren Geschichte. Gleichzeitig beginnt der rasche Aufstieg des Römerstaates Tsin im unphilosophischen Nordwesten, [Heute
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