Der Untergang des Abendlandes
Zeit sich darauf beschränkt, im Rahmen der schlechthin gegebenen Form zu handeln. Diese Formen ändern sich gewissermaßen von selbst. Daß das eine
Aufgabe
der Politik sei, kommt niemand deutlich zum Bewußtsein, selbst wenn ein Königtum gestürzt oder ein Adel untertänig wird. Es gibt nur Standespolitik, kaiserliche, päpstliche, Vasallenpolitik. Das Blut, die Rasse, spricht aus triebhaften, halbbewußten Unternehmungen, denn auch der Priester, soweit er Politik betreibt, handelt hier als Mensch von Rasse. Die »Probleme« des Staates sind noch nicht erwacht. Das Herrschertum und die Urstände, die ganze frühe Formenwelt überhaupt ist gottgegeben, und nur unter ihrer
Voraussetzung
bekämpfen sich organische Minderheiten,
Faktionen
. Zum Wesen der Faktion gehört, daß ihr der Gedanke, die Ordnung der Dinge könne planmäßig geändert werden, gar nicht zugänglich ist. Sie will innerhalb dieser Ordnung einen Rang erkämpfen, Macht und Besitz, wie alles Wachsende in einer wachsenden Welt. Es sind Gruppen, in denen Verwandtschaft der Häuser, Ehre, Treue, Bündnisse von fast mystischer Innerlichkeit eine Rolle spielen und abstrakte Ideen ganz ausgeschlossen bleiben. So sind die Faktionen in homerischer und gotischer Zeit, Telemach und die Freier in Ithaka, die Blauen und Grünen unter Justinian, die Welfen und Waiblinger, die Häuser Lancaster und York, die Protestanten, [Urspr. eine Vereinigung von neunzehn Fürsten und freien Städten (1529).] die Hugenotten und auch noch die treibenden Mächte der Fronde und der ersten Tyrannis. Das Buch von Macchiavelli ruht ganz auf diesem Geist.
Die Wendung tritt ein, sobald mit der großen Stadt der Nichtstand, das Bürgertum die Führung übernimmt. [Vgl. Bd. II, S. 1000f., 1056.] Jetzt ist es im Gegenteil die politische
Form
, die zum Gegenstand des Kampfes, zum Problem erhoben wird. Bis dahin war sie gereift, jetzt soll sie geschaffen werden. Die Politik wird wach, nicht nur begriffen, sondern auch auf Begriffe gebracht. Gegen Blut und Tradition erheben sich die Mächte des Geistes und Geldes. An Stelle des Organischen tritt das Organisierte,
an Stelle des Standes die Partei
. Eine Partei ist kein Rassegewächs, sondern eine Sammlung von Köpfen und deshalb an Geist den alten Ständen ebenso überlegen, wie sie an Instinkt ärmer ist als sie. Sie ist der Todfeind aller gewachsenen ständischen Gliederung, deren bloßes Vorhandensein ihrem Wesen widerspricht. Eben deshalb ist der Begriff der Partei immer mit dem unbedingt
verneinenden
, auflösenden, gesellschaftlich einebnenden der
Gleichheit
verbunden. Nicht Standesideale, sondern nur noch Berufsinteressen werden anerkannt. [Deshalb nimmt auf dem Boden der bürgerlichen Gleichheit sofort der Geldbesitz die Stelle des genealogischen Ranges ein.] Aber auch mit dem ebenso verneinenden der Freiheit: [Vgl. Bd. II, S. 998f.]
Parteien sind eine rein städtische Erscheinung
. Mit der völligen Befreiung der Stadt vom Lande weicht die Standespolitik überall der Parteipolitik, ob wir davon Kenntnis haben oder nicht, in Ägypten mit dem Ende des Mittleren Reiches, in China mit den kämpfenden Staaten, in Bagdad und Byzanz mit der Abbassidenzeit. In den Hauptstädten des Abendlandes bilden sich die Parteien parlamentarischen Stils, in den Stadtstaaten der Antike die Parteien des Forums, und Parteien magischen Stils kennen wir in den Mavali und den Mönchen des Theodor von Studion. [Vgl. Bd. II, S. 1092, und Wellhausen, Die relig.-polit. Oppositionsparteien im alten Islam (1901).]
Immer aber ist es der
Nicht
stand, die Einheit des Protestes gegen das Wesen des Standes überhaupt, dessen führende Minderheit – »Bildung und Besitz« – als Partei auftritt, mit einem Programm, einem nicht gefühlten, sondern definierten Ziel und der Ablehnung alles dessen, was sich verstandesmäßig nicht erfassen läßt.
Es gibt deshalb im Grunde nur eine Partei
, die des Bürgertums, die liberale, und sie ist sich dieses Ranges auch bewußt. Sie setzt sich dem »Volke« gleich. Ihre Gegner, die echten Stände vor allem, »Junker und Pfaffen«, sind Feinde und Verräter
»des Volkes«
, die eigne Meinung ist die
»Stimme des Volkes«
, die diesem mit allen Mitteln parteipolitischer Bearbeitung, der Rede des Forums, der Presse des Abendlandes eingeimpft wird, um dann vertreten zu werden.
Die
Urstände
sind Adel und Priestertum. Die
Urpartei
ist die des Geldes und Geistes, die liberale, die der großen Stadt. Hier liegt die tiefe Berechtigung
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