Der Untergang des Abendlandes
Newtons. Man kann sich sehr wohl denken, daß beide Kulturen ohne eine Naturwissenschaft eignen Stils geblieben wären, aber man kann sich beide Systeme nicht ohne den Untergrund jener Kulturen denken.
Wir erfahren hier wieder, in welchem Sinne Werden und Gewordnes, Richtung und Ausdehnung einander einschließen und
unterordnen, je nachdem wir geschichtlich oder naturhaft »im Bilde sind«. Ist »Geschichte« diejenige Art der Weltfassung, in welcher alles Gewordne dem Werden eingefügt wird, so müßte das auch mit den Ergebnissen der Naturforschung der Fall sein. Und in der Tat, für den Blick des Historikers gibt es nur eine
Geschichte der Physik
. Es war Schicksal, daß die Entdeckung des Sauerstoffs, des Neptun, der Gravitation, der Spektralanalyse gerade so und damals erfolgte. Es war Schicksal, daß die Phlogistontheorie, die Wellentheorie des Lichts, die kinetische Gastheorie als Deutung gewisser Befunde
überhaupt
entstanden sind, nämlich als persönlichste Überzeugung einzelner Geister, obwohl andre Theorien – »richtige« oder »falsche« – ebensogut entstehen konnten. Und daß diese Ansicht verschwand und jene das ganze Weltbild der Physik in eine gewisse Richtung lenkte, war wiederum Schicksal und das Ergebnis des Eindrucks einer starken Persönlichkeit. Selbst der geborne Physiker redet vom Schicksal eines Problems und von der Geschichte einer Entdeckung. Umgekehrt: Ist »Natur« die Fassung, welche verstandesmäßig das Werden dem Gewordenen einverleiben möchte, die lebendige Richtung also der starren Ausdehnung, so darf die Geschichte bestenfalls in einem Kapitel der Erkenntnistheorie erscheinen und wirklich, so hätte Kant sie aufgefaßt, wenn er nicht, was noch bezeichnender ist, sie in seinem Erkenntnissystem vollständig vergessen hätte. Für ihn wie für jeden geborenen Systematiker war die Natur
die
Welt; indem er von der Zeit redete, ohne deren
Richtung
und Nichtumkehrbarkeit zu bemerken, verriet er, daß er von der Natur sprach, ohne die Möglichkeit einer andern Welt, der historischen – die für ihn vielleicht wirklich unmöglich war –, zu ahnen.
Aber Kausalität hat mit Zeit gar nichts zu tun
. Das wirkt heute als Paradoxon ohnegleichen, vor einer Welt von Kantianern, die gar nicht wissen, wie sehr sie es sind. Indessen läßt sich in jeder Formel der abendländischen Physik das Wie
dem Wesen nach
von dem Wann und Wielange unterscheiden. Der kausale Zusammenhang beschränkt sich, sobald man in die Tiefe dringt, streng darauf,
daß
etwas geschieht, nicht
wann
es geschieht. Die »Wirkung« muß mit der »Ursache« notwendig gesetzt sein. Ihr
Abstand
gehört einer andern Ordnung an. Er liegt im Verstehen selbst als einem Zuge des Lebens, nicht im Verstandenen. Im Wesen des Ausgedehnten ist eine Überwindung des Gerichtetseins enthalten. Der Raum widerspricht der Zeit,
obwohl sie ihm als das Tiefere voraufgeht und zugrunde liegt
. Denselben Vorrang nimmt das Schicksal in Anspruch. Wir haben zunächst die Idee des Schicksals und erst im
Widerspruch
zu ihr, aus der Angst geboren, als Versuch des Wachseins, das unentrinnbare Ende, den Tod innerhalb der Sinnenwelt zu bannen, zu überwinden, das Kausalitätsprinzip, durch das die Lebensangst sich des Schicksals zu
erwehren
sucht, indem sie ihm zum Trotz
eine andere Welt begründet
. Indem sie das Gespinst von Ursache und Wirkung über deren sinnliche Oberfläche breitet, hat sie ein überzeugendes Bild zeitloser Dauer geschaffen, ein
Sein
, das mit dem vollen Pathos des reinen Denkens umkleidet wird. Diese Tendenz liegt in dem Gefühl: Wissen ist Macht, das allen reifen Kulturen wohlbekannt ist. Damit ist Macht über das Schicksal gemeint. Der abstrakte Gelehrte, der Naturforscher, der Denker in Systemen, dessen ganze geistige Existenz sich auf das Kausalitätsprinzip gründet, ist eine späte Erscheinung unbewußten
Hasses
gegen die Mächte des Schicksals, des Unbegreiflichen. Die »reine Vernunft« leugnet alle Möglichkeiten außer sich. Hier liegt das strenge Denken mit der großen Kunst ewig im Streite. Das eine lehnt sich auf, die andre gibt sich hin. Ein Mann wie Kant wird sich Beethoven immer überlegen fühlen wie der Mann dem Kinde, aber er wird Beethoven nicht hindern, die »Kritik der reinen Vernunft« als eine armselige Art von Weltbetrachtung abzulehnen. Der Mißbegriff der
Teleologie
, dieser Unsinn allen Unsinns innerhalb der reinen Wissenschaft, bedeutet nichts anderes als den Versuch, den
lebendigen
Gehalt aller
Weitere Kostenlose Bücher