Der Untergang des Abendlandes
naturhaften Erkenntnis – denn zum Erkennen gehört auch ein Erkennender; und ist der
Inhalt
dieses Denkens »Natur«, so ist der
Akt
des Denkens Geschichte – und mit ihm das Leben selbst durch das mechanistische Prinzip einer umgekehrten Kausalität sich anzugleichen. Die Teleologie ist eine Karikatur der Schicksalsidee. Was Dante als
Bestimmung
fühlt, verwandelt der Gelehrte in einen
Zweck
des Lebens. Dies ist die eigentliche und tiefste Tendenz des Darwinismus, einer großstädtisch-intellektuellen Weltfassung in der abstraktesten aller Zivilisationen, und der aus
einer
Wurzel mit ihm entspringenden, ebenfalls alles Organische und Schicksalhafte tötenden materialistischen Geschichtsauffassung. Deshalb ist das morphologische Element des Kausalen ein
Prinzip
, das des Schicksals aber eine
Idee
– die sich nicht »erkennen«, beschreiben, definieren, die sich nur fühlen und innerlich erleben läßt, die man entweder niemals begreift oder deren man völlig gewiß ist, wie der frühe Mensch und unter den späten alle wahrhaft bedeutenden, der Gläubige, der Liebende, der Künstler, der Dichter.
Und so erscheint das Schicksal
als die eigentliche Daseinsart des Urphänomens
, in welchem vor dem Schauenden sich die lebendige Idee des Werdens unmittelbar entfaltet. So beherrscht die Schicksalsidee das gesamte Weltbild der Geschichte, während alle Kausalität, welche die Daseinsart von
Gegenständen
ist und die Welt des Empfindens zu wohlunterschiedenen und abgegrenzten
Dingen, Eigenschaften, Verhältnissen
prägt, als Form des Verstehens dessen alter ego, die Welt als Natur, beherrscht und durchdringt.
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Erst aus dem Urgefühl der Sehnsucht und dessen Verdeutlichung in der Schicksalsidee wird nunmehr das
Zeitproblem
zugänglich, dessen Gehalt, soweit er das Thema des Buches berührt, kurz umschrieben werden soll. Mit dem
Worte
Zeit wird immer etwas höchst Persönliches angerufen, das, was anfangs als das
Eigne
bezeichnet worden war, insofern es mit innerer Gewißheit als Gegensatz zu etwas
Fremdem
empfunden wird, das in, mit und unter den Eindrücken des Sinnenlebens auf das Einzelwesen eindringt. Das Eigne, das Schicksal, die Zeit sind Wechselworte.
Das Problem der Zeit ist wie das des Schicksals von allen auf die Systematik des Gewordenen eingeschränkten Denkern mit vollkommenem Unverständnis behandelt worden. In Kants berühmter Theorie ist von dem Merkmal des
Gerichtetseins
mit keinem Wort die Rede. Man hat Äußerungen darüber nicht einmal vermißt. Aber was ist das – Zeit als Strecke, Zeit ohne Richtung? Alles Lebendige besitzt – hier kann man sich nur wiederholen – »
Leben
«, Richtung, Triebe, Wollen, eine mit Sehnsucht aufs tiefste verwandte
Bewegtheit
, die mit der »Bewegung« des Physikers nicht das geringste zu tun hat. Das Lebendige ist unteilbar und nicht umkehrbar, einmalig, nie zu wiederholen und in seinem Verlaufe mechanisch völlig unbestimmbar: das alles gehört zur Wesenheit des Schicksals. Und »Zeit« – das, was man beim Klang des Wortes wirklich
fühlt
, was Musik besser verdeutlichen kann als Worte, Poesie besser als Prosa – hat im Unterschied vom toten Raume diesen
organischen
Wesenszug. Damit aber verschwindet die von Kant und allen andern geglaubte Möglichkeit, die Zeit
neben dem Raum
einer gleichartigen erkenntniskritischen Erwägung unterwerfen zu können. Raum ist ein
Begriff
. Zeit ist ein Wort, um etwas Unbegreifliches anzudeuten, ein Klangsymbol, das man völlig mißversteht, wenn man es ebenfalls als Begriff wissenschaftlich zu behandeln sucht. Selbst das Wort Richtung, das sich nicht ersetzen läßt, ist geeignet, durch seinen optischen Gehalt irrezuführen. Der Vektorbegriff der Physik ist ein Beweis dafür.
Dem Urmenschen kann das
Wort
»Zeit« nichts bedeuten. Er lebt, ohne es durch den Gegensatz zu etwas anderem nötig zu haben. Er hat Zeit, aber er
weiß
nichts von ihr. Wir alle werden uns, indem wir wach sind,
nur
des Raumes, nicht der Zeit bewußt. Er »ist«, nämlich in und mit unsrer Sinnenwelt, und zwar als ein Sichausdehnen, solange wir träumerisch, triebhaft, schauend, »weise« vor uns hin leben, als Raum im strengen Sinne in den Augenblicken gespannter Aufmerksamkeit. »Die Zeit« dagegen ist eine
Entdeckung,
die wir erst denkend machen; wir erzeugen sie als Vorstellung oder Begriff, und noch viel später ahnen wir, daß wir selbst, insofern wir leben,
die Zeit sind
. [Auch das Sinnenleben und Geistesleben ist Zeit; erst das Sinnen- und
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