Der Untergang des Abendlandes
über den Sinn des Lebens gleichbedeutend mit Fatalismus und Prädestination sei, der weiß gar nicht, wovon die Rede ist, der hat schon das Erlebnis mit dem Erkannten und Erkennbaren verwechselt. Kausalität ist das Verstandesmäßige, Gesetzhafte, Aussprechbare, das Merkmal unsres gesamten verstehenden Wachseins. Schicksal ist das Wort für eine nicht zu beschreibende innere Gewißheit. Man macht das Wesen des Kausalen deutlich durch ein physikalisches oder erkenntniskritisches System, durch Zahlen, durch begriffliche Zergliederung. Man teilt die Idee eines Schicksals nur als Künstler mit, durch ein Bildnis, durch eine Tragödie, durch Musik. Das eine fordert eine
Unterscheidung
, also Zerstörung, das andre ist durch und durch
Schöpfung
. Darin liegt die Beziehung des Schicksals zum Leben, der Kausalität zum Tode.
In der Schicksalsidee offenbart sich die Weltsehnsucht einer Seele, ihr Wunsch nach dem Licht, dem Aufstieg, nach Vollendung und Verwirklichung ihrer Bestimmung. Sie ist keinem Menschen ganz fremd, und erst der späte, wurzellose Mensch der großen Städte mit seinem Tatsachensinn und der Macht seines mechanisierenden Denkens über das ursprüngliche Schauen verliert sie aus den Augen, bis sie in einer tiefen Stunde mit furchtbarer, alle Kausalität der Weltoberfläche zermalmender Deutlichkeit vor ihm steht. Denn die Welt als System kausaler Zusammenhänge ist spät, selten und nur dem energischen Intellekt hoher Kulturen ein sichrer, gewissermaßen künstlicher Besitz. Kausalität deckt sich mit dem Begriff des Gesetzes. Es gibt
nur
Kausalgesetze. Aber wie im Kausalen nach Kants Feststellung eine
Notwendigkeit des denkenden Wachseins
liegt, die
Grundform seiner Beziehung zur Welt der Dinge
, so bezeichnen die Worte Schicksal, Fügung, Bestimmung eine unentrinnbare
Notwendigkeit des Lebens
. Wirkliche Geschichte ist schicksalsschwer, aber frei von Gesetzen. Man kann die Zukunft ahnen, und es gibt einen Blick, der tief in ihre Geheimnisse dringt, aber man berechnet sie nicht. Der physiognomische Takt, mit dem man aus einem Antlitz ein ganzes Leben, aus dem Bild einer Epoche den Ausgang ganzer Völker abliest, und zwar unwillkürlich und ohne »System«, bleibt weltenfern von aller »Ursache« und »Wirkung«.
Wer die Lichtwelt seiner Augen nicht physiognomisch, sondern systematisch erfaßt, sie durch das Mittel
kausaler
Erfahrungen sich geistig aneignet, wird zuletzt mit Notwendigkeit alles Lebendige aus der Perspektive von Ursache und Wirkung zu verstehen glauben, ohne Geheimnis, ohne inneres Gerichtetsein. Wer aber wie Goethe, wie jeder Mensch in weitaus den meisten Augenblicken seines wachen Daseins, die Umwelt nur auf seine Sinne eindringen läßt und die Gesamtheit dieses Eindrucks
hinnimmt
, das Gewordne als werdend fühlt, die starre Weltmaske der Kausalität lüftet, indem er einmal
nicht
nach-denkt, für den ist die Zeit plötzlich kein Rätsel mehr, kein Begriff, keine »Form«, keine Dimension, sondern etwas innerlich Gewisses, das Schicksal selbst; ihr Gerichtetsein, ihre
Nichtumkehrbarkeit
, ihre Lebendigkeit erscheint als der Sinn des historischen Weltaspekts.
Schicksal und Kausalität verhalten sich wie Zeit und Raum.
In beiden
möglichen
Weltbildungen, in Geschichte und Natur, der
Physiognomie alles Werdens
und dem
System alles Gewordenen
, herrschen also Schicksal oder Kausalität. Zwischen ihnen besteht der Unterschied eines Lebensgefühls und einer Erkenntnisweise. Jedes von ihnen ist der Ausgangspunkt einer
vollkommenen und in sich geschlossenen
, nur nicht der
einzigen
Welt.
Aber das Werden liegt dem Gewordenen, das innere und gewisse
Fühlen
eines Schicksals mithin dem
Erkennen
von Ursache und Wirkung zugrunde. Kausalität ist – wenn man sich so ausdrücken darf – gewordenes, entorganisiertes, in Formen des Verstandes erstarrtes Schicksal. Das Schicksal selbst, an dem alle Erbauer verstandesmäßiger Weltsysteme wie Kant schweigend vorübergegangen sind, weil sie das Leben mit ihren vom Leben
abgezogenen
Grundbegriffen nicht zu berühren vermochten, steht jenseits und außerhalb aller begriffenen Natur. Als das Ursprüngliche aber gibt es dem toten und starren Prinzip von Ursache und Wirkung erst die – geschichtlichlebendige – Möglichkeit, innerhalb hochentwickelter Kulturen als Form und Verfassung eines tyrannischen Denkens aufzutreten. Das Dasein der antiken Seele ist die
Bedingung
für die Entstehung der Methode Demokrits und das der faustischen für diejenige
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