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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Geistes
erlebnis
, die
Welt
, ist raumhafter Natur. (Über die größere Nähe des Weiblichen zur Zeit vgl. Bd. II, S. 961 ff.).] Erst das Weltverstehen hoher Kulturen entwirft unter dem mechanisierenden Eindruck einer »Natur«, aus dem Bewußtsein eines streng geordneten Räumlichen, Meßbaren, Begrifflichen das raumhafte Bild, das
Phantom
einer Zeit, [Die deutsche Sprache besitzt – wie viele andre – in dem Worte
Zeitraum
ein Zeichen dafür, daß wir Richtung nur als Ausdehnung uns vorstellen können.] das seinem Bedürfnis, alles zu begreifen, zu messen, kausal zu ordnen, genügen soll. Und dieser Trieb, der in jeder Kultur sehr früh erscheint, ein Zeichen verlorner Unschuld des Daseins, schafft jenseits des echten Lebensgefühls das, was alle Kultursprachen Zeit nennen und was dem städtischen Geiste zu einer völlig anorganischen, ebenso irreführenden als geläufigen Größe geworden ist. Bedeuten aber die identischen Merkmale der Ausdehnung, Grenze und Kausalität eine Beschwörung und Bannung der fremden Mächte durch das eigne Seelentum – Goethe spricht einmal von »dem Prinzip verständiger Ordnung, das wir in uns tragen, das wir als Siegel unserer Macht auf alles prägen möchten, was uns berührt« –, ist alles Gesetz eine Fessel, welche die Weltangst dem zudrängenden Sinnlichen anlegt, eine tiefe Notwehr des Lebens, so ist die Konzeption der bewußten Zeit als einer raumhaften Vorstellung innerhalb dieses Zusammenhangs ein später Akt derselben Notwehr, ein Versuch, das quälende innere Rätsel, doppelt quälend für den zur Herrschaft gelangten Verstand, dem es widerspricht, durch die Kraft des Begriffes zu bannen. Es liegt immer ein feiner Haß in dem geistigen Vorgang, durch den etwas in den Bereich und die Formenwelt des Maßes und Gesetzes gezwungen wird. Man tötet das Lebendige durch seine Einbeziehung in den Raum, der leblos ist und leblos macht. Mit der Geburt ist der Tod, mit der Vollendung das Ende gegeben. Es stirbt etwas im Weibe, wenn es empfängt, und daher der ewige, aus der Weltangst geborne Haß der Geschlechter. Der Mensch vernichtet in einem sehr tiefen Sinne, indem er zeugt: durch leibliche Zeugung in der sinnlichen, durch »Erkennen« in der geistigen Welt. Noch bei Luther hat Erkennen den Nebensinn von Zeugung. Mit dem Wissen um das Leben, das den Tieren fremd blieb, ist das Wissen um den Tod zu jener Macht aufgewachsen, die das gesamte menschliche Wachsein beherrscht. Mit dem Bilde der Zeit wurde das Wirkliche zum Vergänglichen. [Vgl. Bd. II, S. 574 f.]
    Die Schöpfung des bloßen Namens Zeit war eine Erlösung ohnegleichen. Etwas beim Namen nennen, heißt Macht darüber gewinnen: dies ist ein wesentlicher Teil urmenschlicher Zauberkünste. Man bezwingt die bösen Mächte durch Nennung ihres Namens. Man schwächt oder tötet seinen Feind, indem man mit dessen Namen gewisse magische Prozeduren vornimmt. [Vgl. Bd. I, S. 108 f., Bd. II, S. 723, 885.] Etwas von diesem frühesten Ausdruck der Weltangst hat sich in der Sucht aller systematischen Philosophie erhalten, das Unfaßliche, dem Geist Allzumächtige durch Begriffe, wenn es nicht anders ging, durch bloße Namen abzutun. Man nennt irgendetwas »das Absolute« und fühlt sich ihm schon überlegen. »Philosophie«, die
Liebe
zur Weisheit, ist im tiefsten Grunde die Abwehr des Unbegreiflichen. Was benannt, begriffen, gemessen ist, ist überwältigt, starr, »tabu« [Vgl. Bd. II, S. 693.] geworden. Noch einmal: »Wissen ist Macht«. Hier liegt eine Wurzel des Unterschieds zwischen idealistischen und realistischen Weltanschauungen. Er entspricht dem Doppelsinn des Wortes »scheu«. Die einen entspringen aus scheuer Ehrfurcht, die andern aus Abscheu vor dem Unzugänglichen. Die einen schauen an, die andern wollen unterwerfen, mechanisieren, unschädlich machen. Plato und Goethe nehmen das Geheimnis demütig hin, Aristoteles und Kant wollen es entblößen und vernichten. Das tiefste Beispiel für diesen Hintersinn alles Realismus bietet das Zeitproblem. Das Unheimliche der Zeit, das Leben selbst soll hier beschworen, durch die Magie der Begrifflichkeit aufgehoben werden.
    Alles was in der »wissenschaftlichen« Philosophie, Psychologie und Physik über die Zeit gesagt worden ist – die vermeintliche Antwort auf eine Frage, welche nicht hätte gestellt werden sollen: was nämlich die Zeit »
ist
« –, betrifft niemals das Geheimnis selbst, sondern lediglich ein räumlich gestaltetes,
stellvertretendes
Phantom, in dem die

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