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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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zweifellos und schon längst vermutet worden, daß alle Urworte, mögen sie Dinge oder Eigenschaften bezeichnen, paarweise entstanden sind. Aber ebenso empfängt später und heute noch jedes neue Wort seinen Gehalt als Widerschein eines andern. Das sprachgeleitete Verstehen, unfähig, die innere Gewißheit des Schicksals seiner Formenwelt einzugliedern, hat vom Raume aus »die Zeit« als dessen Gegenüber geschaffen. Andernfalls würden wir weder das Wort noch dessen Inhalt besitzen. Und diese Bildungsweise geht so weit, daß aus dem antiken Stil der Ausdehnung ein spezifisch antiker Zeitbegriff entsprang, der sich vom indischen, chinesischen, abendländischen genau so unterscheidet, wie es mit dem Raume der Fall ist.
    Die Frage nach dem Geltungsbereich kausaler Zusammenhänge innerhalb eines Naturbildes oder, was nunmehr dasselbe ist, nach den Schicksalen dieses Naturbildes, wird aber noch viel schwieriger, wenn wir zu der Einsicht gelangen, daß es für den ursprünglichen Menschen und das Kind eine vollkommen kausal geordnete Umwelt noch gar nicht gibt, und daß wir, späte Menschen, deren Denken doch unter dem Druck eines übermächtigen, an der Sprache geschärften Denkens steht, selbst in den Augenblicken gespanntester Aufmerksamkeit – den einzigen, in welchen wir wirklich streng physikalisch »im Bilde« sind – bestenfalls
behaupten
können, daß diese kausale Ordnung auch abgesehen von diesen Augenblicken in der uns umgebenden Wirklichkeit enthalten sei. Wir nehmen wachend dieses Wirkliche, »der Gottheit lebendiges Kleid«,
physiognomisch
hin, unwillkürlich und auf Grund einer tiefen, in die Quellen des Lebens hinabreichenden Erfahrung. Die
systematischen
Züge sind Ausdruck eines aus dem
gegenwärtigen Empfinden
abgehobenen Verstehens, und mit ihnen unterwerfen wir das Vorstellungsbild aller fernen Zeiten und Menschen dem Augenblicksbilde der durch uns selbst geordneten Natur. Die Art dieser Ordnung aber, die eine Geschichte hat, in die wir nicht im geringsten eingreifen können, ist nicht die Wirkung einer Ursache, sondern ein Schicksal.
    Aus diesem Grunde ist der Begriff einer Kunstform – ebenfalls ein »Gegenbegriff« – erst entstanden, als man sich eines »Gehalts« der Kunstschöpfungen bewußt wurde, das heißt, als die Ausdruckssprache der Kunst aufgehört hatte, samt ihren Wirkungen als etwas ganz Natürliches und Selbstverständliches da zu sein, wie es zur Zeit der Pyramidenbauer, der mykenischen Burgen und der frühgotischen Dome ohne Zweifel noch der Fall war. Man wird plötzlich auf das Entstehen der Werke aufmerksam. Erst jetzt trennen sich für das verstehende Auge eine kausale und eine Schicksalsseite aller lebenden Kunst.
    In jedem Werke, das den
ganzen
Menschen, den
ganzen
Sinn des Daseins offenbart, liegen Angst und Sehnsucht dicht beieinander, aber sie bleiben zweierlei. Zur Angst, zum Kausalen gehört die ganze »Tabuseite« der Kunst: ihr Schatz an Motiven, wie er in strengen Schulen und langer Handwerkszucht herausgebildet, sorgfältig gehütet und treu überliefert wird, alles Begreifliche, Lernbare,
Zahlenmäßige
, alle
Logik
in Farbe, Linie, Ton, Bau, Ordnung, die »Muttersprache« also jedes tüchtigen Meisters und jeder großen Epoche. Das andre, als das Gerichtete dem Ausgedehnten, als die Entwicklung und die Schicksale einer Kunst den Gründen und Folgen innerhalb ihrer Formensprache entgegengesetzt, tritt als »Genie«, nämlich in der ganz persönlichen Gestaltungskraft, der schöpferischen Leidenschaft, Tiefe und Fülle
einzelner
Künstler in Erscheinung im Unterschied von aller bloßen Beherrschung der Form, und noch darüber hinaus im Überschwang der Rasse, welcher den Aufstieg oder Verfall ganzer Künste bedingt; diese »Totemseite« hat bewirkt, daß es aller Ästhetik zum Trotz keine zeitlose und allein wahre Kunstweise gibt, sondern eine Kunst
geschichte
, an welcher wie an allem Lebendigen das Merkmal der Nichtumkehrbarkeit haftet. [Vgl. Bd. II, S. 693, 716.]
    Die Architektur großen Stils, die allein von allen Künsten das Fremde und Angsteinflößende selbst, das unmittelbar Ausgedehnte, den
Stein
behandelt, ist deshalb die selbstverständliche Frühkunst aller Kulturen, die mathematischste von allen, die erst Schritt für Schritt den städtischen Sonderkünsten der Statue, des Gemäldes, der musikalischen Komposition mit ihren weltlicheren Formmitteln den Vorrang abtritt. Michelangelo, der von allen großen Künstlern des Abendlandes unter dem

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