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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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hat. Wo es am Schema fehlt, da fehlt es an Philosophie – das ist das uneingestandene Vorurteil aller zünftigen Systematiker gegenüber den »Anschauenden«, denen sie sich innerlich weit überlegen fühlen. Deshalb nannte Kant den Stil des platonischen Denkens ärgerlich »die Kunst, wortreich zu schwatzen« und deshalb schweigt der Kathederphilosoph noch heute über Goethes Philosophie. Jede logische Operation läßt sich
zeichnen
. Jedes System ist eine
geometrische
Art, Gedanken zu handhaben. Deshalb hat die Zeit in einem »System« keinen Platz oder sie fällt dessen Methode zum Opfer.
    Damit ist auch das allverbreitete Mißverständnis widerlegt, welches die Zeit mit der Arithmetik, den Raum mit der Geometrie in eine oberflächliche Verbindung bringt, ein Irrtum, dem Kant nicht hätte erliegen sollen, wenn man auch von Schopenhauers Verständnislosigkeit für Mathematik kaum etwas anderes erwartet. Weil der lebendige
Akt des Zählens
mit der Zeit irgendwie in Beziehung steht, hat man immer wieder Zahl und Zeit vermengt. Aber Zählen ist keine Zahl, so wenig als Zeichnen eine Zeichnung ist. Zählen und Zeichnen sind ein Werden, Zahlen und Figuren sind Gewordnes. Kant und die andern haben dort den lebendigen Akt (das Zählen), hier dessen Ergebnis (die Verhältnisse der fertigen Figur) ins Auge gefaßt. Aber das eine gehört in den Bereich des Lebens und der Zeit, das andre in den der Ausdehnung und Kausalität.
Daß
ich rechne, unterliegt der organischen, was ich rechne, der anorganischen Logik. Die
gesamte
Mathematik, volkstümlich gesprochen also Arithmetik und Geometrie, beantwortet das
Wie
und
Was
, die Frage also nach der
natürlichen
Ordnung der Dinge. Im Gegensatz dazu steht die Frage nach dem
Wann
der Dinge, die spezifisch
historische
Frage, die nach dem Schicksal, der Zukunft, der Vergangenheit. All das liegt in dem Worte
Zeitrechnung
, das der naive Mensch vollkommen unzweideutig versteht.
    Es gibt keinen Gegensatz von Arithmetik und Geometrie. [Außer in der Elementarmathematik, unter deren Eindruck allerdings die meisten Philosophen seit Schopenhauer diesen Fragen nahetreten.] Jede Art von Zahl – das wird das erste Kapitel hinlänglich erwiesen haben – gehört im vollen Umfange dem Bereich des Ausgedehnten und Gewordnen an, sei es als euklidische Größe, sei es als analytische Funktion. Und in welches der beiden Gebiete sollten denn die zyklometrischen Funktionen, der Binominalsatz, die Riemannschen Flächen, die Gruppentheorie gehören? Kants Schema war durch Euler und d'Alembert schon widerlegt, bevor er es aufgestellt hatte, und nur die Unvertrautheit der Philosophen nach ihm mit der Mathematik ihrer Zeit – sehr im Gegensatz zu Descartes, Pascal und Leibniz, welche die Mathematik
ihrer
Zeit aus den Tiefen ihrer Philosophie heraus selbst geschaffen hatten – konnte dahin führen, daß laienhafte Ansichten von einer Beziehung zwischen Zeit und Arithmetik sich kaum angefochten weiter vererbten. Aber es gibt keine Berührung des Werdens mit irgendeinem Gebiete der Mathematik. Nicht einmal die tief begründete Überzeugung Newtons, in dem ein tüchtiger Philosoph steckte, daß er im Prinzip seiner Differentialrechnung (Fluxionsrechnung) das Problem des Werdens, das Zeitproblem also – übrigens in einer viel feineren als der kantischen Fassung – unmittelbar in Händen habe, ließ sich aufrecht erhalten, so sehr sie heute noch Anhänger findet. Bei der Entstehung von Newtons Fluxionslehre hatte das metaphysische Bewegungsproblem eine entscheidende Rolle gespielt. Seit Weierstraß indessen bewiesen hat, daß es stetige Funktionen gibt, die nur teilweise oder gar nicht differentiiert werden können, ist dieser tiefste jemals unternommene Versuch, dem Zeitproblem mathematisch nahe zu kommen, abgetan.
11
    Die Zeit ist ein Gegenbegriff zum Raume
, so wie erst im Gegensatz zum Denken nicht die Tatsache, aber der Begriff des Lebens, und erst im Gegensatz zum Tode nicht die Tatsache, aber der Begriff des Entstehens, der Zeugung entstanden ist. [Vgl. Bd. II, S. 568, 574.] Das liegt tief im Wesen allen Wachseins begründet. So wie jeder Sinneseindruck erst bemerkt wird, wenn er sich von einem andern abhebt, so ist jede Art von Verstehen als eigentlich kritische Tätigkeit [Vgl. Bd. II, S. 570f.] nur dadurch möglich, daß ein neuer Begriff sich als Gegenpol eines vorhandenen bildet oder ein Begriffspaar von innerem Gegensatz gewissermaßen durch Auseinandertreten erst Wirklichkeit erhält. Es ist

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