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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Lebendigkeit der Richtung, ihr Schicksalszug, durch das wenn auch noch so verinnerlichte Bild einer Strecke ersetzt worden ist, ein mechanisches, meßbares, teilbares und umkehrbares Abbild des in der Tat nicht Abzubildenden; eine Zeit, welche mathematisch in Ausdrücke wie √t, t 2 , -t gebracht werden kann, die die Annahme einer Zeit von der Größe Null oder negativer Zeiten wenigstens nicht ausschließen. [Die Relativitätstheorie, eine Arbeitshypothese, welche im Begriff steht, die Mechanik Newtons – im Grunde bedeutet das: seine Fassung des
Bewegungsproblems
– zu stürzen, läßt Fälle zu, in welchen die Bezeichnungen »früher« und »später« sich umkehren; die mathematische Begründung dieser Theorie durch Minkowski wendet
imaginäre
Zeiteinheiten zu Maßzwecken an.] Ohne Zweifel kommt hier der Bereich des Lebens, des Schicksals, der lebendigen, historischen Zeit gar nicht in Frage. Es handelt sich um ein gedankliches, selbst vom Sinnenleben abgehobenes Zeichensystem. Man setze in irgendeinem philosophischen oder physikalischen Text für Zeit das Wort Schicksal ein und man wird plötzlich fühlen, wohin sich das durch die Sprache vom Empfinden gelöste Verstehen verirrt hat und wie unmöglich die Gruppe »Raum und Zeit« ist. Was nicht erlebt und gefühlt, was nur gedacht wird, nimmt notwendig räumliche Beschaffenheit an. So erklärt es sich, daß kein systematischer Philosoph mit den von Geheimnis umwitterten, in die Ferne ziehenden Klangsymbolen Vergangenheit und Zukunft etwas hat anfangen können. In Kants Ausführungen über die Zeit kommen sie gar nicht vor. Man sieht auch nicht, in welcher Beziehung sie zu dem stehen sollten, was er dort behandelt. Damit erst wird es möglich, »Raum und Zeit« als Größen derselben Ordnung in funktionale Abhängigkeit voneinander zu bringen, wie dies besonders deutlich die vierdimensionale Vektoranalysis zeigt. [Die Dimensionen sind
x, y, z
und
t
, die in Transformationen völlig gleichwertig erscheinen.] Schon Lagrange nannte (1813) die Mechanik ohne weiteres eine vierdimensionale Geometrie, und selbst Newtons vorsichtiger Begriff des tempus absolutum sive duratio entzieht sich nicht dieser denknotwendigen Verwandlung des Lebendigen in bloße Ausdehnung. Eine einzige tiefe und ehrfürchtige Bezeichnung der Zeit habe ich in der älteren Philosophie gefunden. Sie steht bei Augustinus (Conf. XI, 14): Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio.
    Wenn Philosophen der abendländischen Gegenwart – sie tun es alle – sich der Wendung bedienen, daß die Dinge »
in der Zeit
« wie im Raume sind und nichts »außerhalb« ihrer »gedacht« werden könne, so setzen sie lediglich eine zweite Art von Räumlichkeiten neben die gewöhnliche. Das ist, als wollte man Hoffnung und Elektrizität die beiden Kräfte des Weltalls nennen. Es hätte Kant, als er von den »beiden Formen« der Anschauung sprach, doch nicht entgehen sollen, daß man sich wissenschaftlich bequem über den Raum verständigen kann – wenn auch nicht ihn im landläufigen Sinne
erklären
, was jenseits des wissenschaftlich Möglichen hegt –, während eine Betrachtung in demselben Stil der Zeit gegenüber völlig versagt. Der Leser der »Kritik der reinen Vernunft« und der »Prolegomena« wird bemerken, daß Kant für den Zusammenhang von Raum und Geometrie einen sorgfältigen Beweis liefert, es aber peinlich vermeidet, dasselbe für Zeit und Arithmetik zu tun. Hier bleibt es bei der
Behauptung
, und die ständig wiederholte Analogie der Begriffe täuscht über die Lücke hinweg, deren
Unausfüllbarkeit
das Unhaltbare seines Schemas offenbart hätte. Dem Wo und Wie gegenüber bildet das Wann eine Welt für sich: es ist der Unterschied von Physik und Metaphysik. Raum, Gegenstand, Zahl, Begriff, Kausalität sind so eng verschwistert, daß es unmöglich ist, wie unzählige verfehlte Systeme beweisen, das eine unabhängig vom andern zu untersuchen. Die Mechanik ist ein Abbild der jeweiligen Logik und umgekehrt. Das Bild des Denkens, dessen Struktur die Psychologie beschreibt, ist ein Gegenbild der Raumwelt, wie sie die gleichzeitige Physik behandelt. Begriffe und Dinge, Gründe und Ursachen, Schlüsse und Prozesse decken sich der Vorstellung nach so vollständig, daß der Reiz, den Denk»prozeß« unmittelbar graphisch und tabellarisch, d. h.
räumlich
darzustellen – man denke an Kants und Aristoteles' Kategorientafel – gerade den abstrakten Denker immer wieder überwältigt

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