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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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beständigen Alpdruck der Weltangst wohl am schwersten gelitten hat, ist darum allein von allen Meistern der Renaissance vom Architektonischen niemals freigeworden. Er malte sogar, als ob die Farbflächen Stein, Gewordnes, Starres,
Gehaßtes
wären. Seine Arbeitsweise war der erbitterte Kampf gegen die feindseligen Mächte des Kosmos, die in Gestalt des Materials ihm
entgegentraten
, während Lionardos, des Sehnsüchtigen, Farben wie eine freiwillige Verstofflichung des Seelischen wirken. In jedem Problem der großen Baukunst kommt aber eine unerbittliche kausale Logik zum Ausdruck, Mathematik sogar, sei es in den antiken Säulenordnungen das
euklidische
Verhältnis von
Träger und Last
, sei es im »analytisch« angelegten Strebesystem gotischer Wölbungen das dynamische von
Kraft und Masse
. Die Bauhüttentradition, die es hier wie dort gegeben hat und ohne die auch die ägyptische Architektur nicht zu denken ist – sie entwickelt sich in jeder Frühzeit und geht im Lauf der Spätzeit regelmäßig verloren –, enthält die volle Summe dieser Logik des Ausgedehnten. Die Symbolik der Richtung, des Schicksals aber steht jenseits aller »Technik« der großen Künste und ist der formalen Ästhetik kaum zugänglich. Sie liegt zum Beispiel in dem stets gefühlten, aber nie, weder von Lessing noch von Hebbel klar gedeuteten Widerspruch antiker und abendländischer Tragik, in der Szenen
folge
altägyptischer Reliefs, überhaupt der
reihenweisen
Ordnung ägyptischer Statuen, Sphinxe, Tempelsäle; nicht in der Behandlung, sondern der Wahl des Materials vom härtesten Diorit bis zum weichsten Holz, durch welche die Zukunft bejaht oder verneint wird; nicht in der Formensprache, sondern im Hervortreten und Hinschwinden der einzelnen Künste, dem Sieg der Arabeske über die Bildkunst der frühchristlichen Zeit, dem Zurückweichen der Ölmalerei des Barock vor der Kammermusik, in der ganz verschiedenen Absicht der ägyptischen, chinesischen und antiken Statuenkunst. Alles das gehört nicht zum Können, sondern zum Müssen, und deshalb geben nicht Mathematik und abstraktes Denken, sondern die großen Künste als die Geschwister der gleichzeitigen Religion den Schlüssel zum Problem der Zeit, das sich auf dem Boden der Geschichte
allein
kaum erschließen läßt.
12
    Aus dem Sinne, welcher hier der Kultur als einem Urphänomen und dem Schicksal als der organischen Logik des Daseins gegeben wurde, folgt, daß notwendig jede Kultur ihre
eigne
Schicksalsidee besitzen muß, ja daß in dem Gefühl, jede große Kultur sei nichts anderes als die Verwirklichung und Gestalt einer einzigen, einzigartigen Seele, diese Folgerung schon eingeschlossen liegt. Was
wir
Fügung, Zufall, Vorsehung, Schicksal, was der antike Mensch Nemesis, Ananke, Tyche, Fatum, der Araber Kismet und alle anderen anders nennen, was niemand einem Fremden, dessen Leben gerade Ausdruck der
eignen
Idee ist, ganz nachfühlen kann und was sich in Worten nicht weiter beschreiben läßt, stellt eben diese einmalige, nie sich wiederholende Fassung der Seele dar, deren jeder für sich völlig gewiß ist.
    Ich wage es, die antike Fassung der Schicksalsidee
euklidisch
zu nennen. In der Tat ist es die sinnlich-wirkliche Person des Ödipus, sein »empirisches Ich«, mehr noch, sein σϖμα, das vom Schicksal getrieben und gestoßen wird. Ödipus klagt, daß Kreon seinem
Leibe
Übles getan habe [Ödipus R. 242, vgl. Rudolf Hirzel, Die Person (1914), S. 9.] und daß das Orakel seinem
Leibe
gelte. [Ödipus Kol. 355.] Und Aischylos spricht in den Choephoren (704) von. Agamemnon als dem »flottenführenden königlichen Leibe«. Es ist dasselbe Wort σϖμα, das die Mathematiker mehr als einmal für ihre Körper gebrauchen. König Lears Schicksal aber, ein
analytisches
, um auch hier an die entsprechende Zahlenwelt zu erinnern, ruht ganz in dunklen innern Beziehungen: Die Idee des Vatertums taucht auf; seelische Fäden spinnen sich durch das Drama, unkörperlich, jenseitig, und werden durch die zweite, kontrapunktisch gearbeitete Tragödie im Hause Glosters seltsam beleuchtet. Lear ist zuletzt ein bloßer Name, ein Mittelpunkt für etwas Grenzenloses.
Diese
Fassung des Schicksals ist eine »infinitesimale«, in unendlicher Räumlichkeit und durch endlose Zeiten ausgebreitete; sie berührt das leibliche, euklidische Dasein gar nicht; sie trifft nur die Seele. Der wahnsinnige König zwischen dem Narren und dem Bettler im Sturm auf der Heide – das ist der Gegensatz zur Laokoongruppe.

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