Der Untergang
Schultern. »In meinem Zelt, wo sonst?«
»Nein, das warst du nicht«, sagte Andrej.
»Gewiss«, beharrte Abu Dun. »Im Gegensatz zu dir habe ich leider keine Zeugen, sodass du schon mit
meinem Wort vorlieb nehmen musst, Hexenmeister. Nachdem du mich ja praktisch rausgeworfen hast,
habe ich mich betrunken und schlafen gelegt.«
»Ich war in deinem Zelt«, sagte Andrej ernst. »Du warst nicht da.«
»Unsinn«, widersprach Abu Dun. »Vielleicht war ich kurz draußen, um die Blumen zu düngen. Aber ich
habe das Lager nicht verlassen.«
»Obwohl du mir praktisch ein Ultimatum gestellt hast?«
Abu Dun verschränkte die Arme vor seiner Brust.
»Manchmal ändert man eben seine Meinung«, sagte er. »Auch, wenn du es nicht verdienst, bin ich zu dem
Schluss gekommen, dass ich bleiben muss, um dir wieder einmal den Hals zu retten. Jetzt frag mich nicht
nach dem Grund. Anscheinend habe ich einen Narren an dir gefressen.«
Andrej wollte antworten, aber in diesem Moment fiel ihm etwas auf. Geschlagene fünf Sekunden lang
starrte er Abu Dun nur wortlos und mit wachsender Verwirrung an, dann fragte er: »Was ist mit deinem
Hals?«
»Mein Hals?« Der Nubier hob die linke Hand und tastete mit den Fingerspitzen über seine Kehle. »Was
soll damit sein?
Nichts.«
»Eben«, sagte Andrej. Plötzlich lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. »Du hast nicht die geringste
Schramme.
Dabei hab ich dir gestern einen tüchtigen Schnitt beigebracht.«
»Dann war er wohl doch nicht so tief, wie du vorgehabt hast«, erwiderte Abu Dun. »Es tut mir ja leid,
dass ich nicht wirklich schwer verletzt bin, aber ich -«
»Du weißt verdammt genau, was ich meine«, unterbrach ihn Andrej. »Die Wunde ist nicht etwa gut
verheilt. Sie ist einfach nicht mehr da!«
»Du wirst dich getäuscht haben«, sagte Abu Dun. Irrte sich Andrej, oder klang seine Stimme ein bisschen
unsicher?
»Ich erinnere mich auch nicht, dass du mich geschnitten hast.
Vermutlich war es dein eigenes Blut. Es ist ja weit genug herumgespritzt.«
Diese Ausrede war so dünn, dass sie schon fast lächerlich wirkte. Aber Andrej war nicht zum Lachen
zumute. Erneut und noch heftiger rann ihm ein eisiger Schauer den Rücken hinab. Was ging hier vor?
»Ja, vielleicht hast du Recht«, sagte er leise. »Vielleicht hab ich mich getäuscht.« Aber er wusste, dass das
nicht stimmte. Er hatte ihn verletzt - ziemlich übel sogar -, und der Nubier war in dieser Nacht nicht in
seinem Zelt gewesen. Warum belog ihn Abu Dun?
Er spürte, was immer er jetzt sagte, er würde die Situation nur noch verschärfen. Abu Dun würde ihm
nicht antworten, und Andrej wusste, dass er eine weitere Herausforderung nicht mehr wortlos hinnehmen
würde. Und er spürte noch etwas: Wen es diesmal zum Streit zwischen ihnen käme, würde es nicht bei
einem harmlosen Geplänkel bleiben.
Und plötzlich wusste er, wer ihm seine Fragen beantworten konnte.
Er musste nicht lange suchen, um Rason und Bason zu finden.
Die Zwillinge lungerten, wohl eher von Neugier als von Sorge getrieben, ganz in der Nähe herum und
sahen immer wieder wie zufällig in Richtung des Wagens, in dem Laurus gerade mit Schulz verhandelte.
Schon, als Andrej sie nur von weitem sah, begann sein Zorn zu verrauchen, und da war wieder diese
Stimme in seinem Kopf, die ihn fragte, warum er eigentlich so wütend auf diese beiden Jungen war, die es
doch ganz gewiss nicht böse mit ihm meinten und ihn - wenn überhaupt - ganz bestimmt nicht mit
heimtückischer Absicht in die Irre geführt hatten, sondern eher aus Ungeschick oder allenfalls falsch
verstandenem, jugendlichem Abenteuersinn.
Andrej gestattete sich nicht, auf sie zu hören.
Er beschleunigte seine Schritte und rannte schon fast, als Bason seine Gegenwart zu spüren schien und
sich zu ihm umdrehte. Auch sein Zwillingsbruder hob den Kopf und blickte in Andrejs Richtung, und es
war seltsam - es sollte umgekehrt sein, aber mit jedem Tag, den er in Gegenwart der Zwillingsbrüder
verbrachte, fiel es ihm schwerer, sie zu unterscheiden, selbst wenn sie direkt nebeneinander standen und
noch dazu unterschiedliche Kleidung trugen wie jetzt.
Wäre nicht der mittlerweile schmutzige Verband an Basons Hand gewesen, Andrej wäre nicht sicher
gewesen, wen er vor sich hatte.
»Andreas!«, begrüßte ihn Bason. Ein strahlendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und er machte
Anstalten, Andrej entgegen zu gehen. »Ich hab mich schon gefragt -«
Andrej packte ihn mit der linken Hand am Kragen, umklammerte mit der anderen
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