Der Untergang
waren der Ansiedlung
vor- und nachgelagert.
Die letzten Meilen hatte sich die Straße durch ein ausgedehntes Moor geschlängelt, sodass die Sinti ihr
ganzes Geschick darauf verwandten, die schweren Wagen genau in der Mitte der Fahrspur zu halten.
Nicht nur Andrej atmete erleichtert auf, als von den eisenbeschlagenen Rädern und den Pferdehufen Kies
und von der Sonne steinhart zusammengebackenes Erdreich widerhallte.
Auf Laurus’ Bitte hin bildeten Abu Dun und er die Nachhut und ritten ein gutes Stück hinter dem Zug her.
Abu Dun war immer noch sehr einsilbig. Er litt nach wie vor unter den Folgen des Alkoholgenusses, und
seine Verletzungen waren anscheinend schlimmer, als er zugeben wollte. Andrej hatte ein paar Mal
versucht, ein Gespräch mit ihm zu beginnen, aber nachdem er nur ein paar spitze Bemerkungen geerntet
hatte, gab er es schließlich auf.
Der Tag war wieder so heiß geworden wie die vorangegangenen.
Nicht der leiseste Windhauch regte sich, und auch der Himmel war stahlblau und wolkenlos. Die Sonne,
eine glühende, fast weiße Münze, schickte ihre Strahlen unbarmherzig auf die verbrannte Erde hinab und
dörrte sie noch weiter aus. Andrej fragte sich, wie lange die Hitzewelle noch anhalten mochte, und vor
allem, wie lange das Land und seine Bewohner sie noch ertragen konnten, ohne ernsthaften Schaden zu
nehmen. Noch führten die Flüsse Wasser und noch waren die Felder nicht vollends verbrannt. Doch in
wenigen Wochen konnte das schon anders aussehen … »Du müsstest dich doch wie zu Hause fühlen«,
sagte Andrej an Abu Dun gewandt, der abwechselnd neben und hinter ihm ritt, um doch noch ein
Gespräch in Gang zu bringen. »Heißer kann es in der Wüste auch nicht sein.«
»Was weißt du schon von der Wüste, Ungläubiger?«, antwortete Abu Dun sauertöpfisch. »Die Wüste ist
erhaben und schön. Es gibt dort wirkliche Größe, und die Menschen, die dort leben …«
»… sind edel und gut und ein Ausbund an Freundlichkeit, ich weiß«, unterbrach ihn Andrej. Er hielt sein
Pferd an, bis Abu Dun neben ihm ritt und ließ das Tier dann im gleichen Tempo wie das des Nubiers
weitertrotten. »Was ist eigentlich los mit dir? Wenn du den Wein nicht verträgst, dann sauf nicht so viel!«
Abu Dun sah ganz so aus, als wollte er wütend werden, aber dann beließ er es bei einem verärgerten Blick
und sank in sich zusammen. »Es ist nicht der Wein«, sagte er.
»Allahs Strafe dafür, dass du gegen die Gebote des Propheten verstoßen und Alkohol zu dir genommen
hast, ich verstehe«, sagte Andrej spöttisch. »Irgendwann musste es der alte Herr da oben ja mal merken.«
»Es ist nicht der Wein«, beharrte Abu Dun.
»Was dann?«
»Nun …« Der riesige Nubier druckste herum. »Gestern«, sagte er schließlich.
»Gestern?« Selbstverständlich wusste Andrej, was Abu Dun meinte, aber er wollte es von ihm hören.
»Diese verdammten Kinder.«
»Ich verstehe.« Andrej nickte. »Geht gegen deine Ehre, dass dich ein paar Halbwüchsige verprügelt
haben, was? Wenn es dich tröstet: Mir geht’s ganz genauso. Aber was hätten wir tun sollen?
Sie umbringen? Es waren trotz allem nur Kinder.«
»Ganz genau das ist es ja«, grollte Abu Dun. »Vor ein paar Jahren hätte ich es getan, ohne zu zögern.«
»Oh, das meinst du«, antwortete Andrej. »Du bist wütend, weil du es nicht mehr über dich bringst, Kinder
umzubringen.«
»Das waren keine Kinder«, zischte Abu Dun leise. »Und sie haben mich nicht verprügelt, sondern um ein
Haar umgebracht. Sie wollten mich umbringen. Und dich haben sie getötet, wenn ich mich recht erinnere.
Sogar zweimal.«
Andrej schwieg.
»Ich wollte sie nicht umbringen«, fuhr Abu Dun nach kurzem Schweigen fort. »Aber ich wollte mich auch
nicht umbringen lassen, verstehst du? Ich …« Er rang sichtlich um Worte und rettete sich schließlich in ein
Achselzucken. »Ich verstehe das nicht. Ich wollte mich wehren, aber es ging nicht. Ich konnte …«
»… ihnen einfach nichts zu leide tun«, ergänzte Andrej.
»Wolltest du das sagen?«
»Dann ist es dir genauso ergangen.« Abu Dun schnaubte.
»Und du glaubst immer noch, das wären ganz normale Kinder gewesen?«
Kinder? Andrej musste plötzlich wieder an diese unheimliche Leere denken, die er gespürt hatte, als er
versuchte nach der Seele des Jungen zu greifen, und ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. Kinder?
Ganz gewiss nicht!
»Aber das ist nicht alles, habe ich Recht?«, fragte er.
»Nein«, antwortete Abu Dun. Er sprach nicht weiter. Aus
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