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Der Untergang

Der Untergang

Titel: Der Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Andrej. Eine Lüge.
Rason hatte ihn erschreckt. Andrejs Blicke suchten den Weg rechts und links des Zigeuners ab, aber dort
gab es nur ein paar Büsche; nichts, wohinter sich auch nur ein Hund hätte verstecken können. Und
überhaupt: Wo um alles in der Welt war Rason eigentlich hergekommen?
»Mein Vater schickt mich«, sagte Rason. »Wir schlagen bald unser Lager auf, und Laurus möchte, dass
ihr, du und dein Freund, in die nächste Stadt reitet, um Vorräte zu besorgen.« Er zuckte verlegen die
Achseln. »Obwohl, was deinen Freund angeht… Hattet ihr Streit?«
»Nein«, antwortete Andrej. »Aber euer Wein hat es in sich.
Morgen früh ist er wieder ganz der Alte.«
Rason nickte. »Dann wird Elena dich begleiten. Sie wollte sowieso mit dir sprechen.«
»Elena?«
»Meine Schwester.« Rason deutete an die Spitze des Zugs. »Du hast sie heute Morgen kennen gelernt.
Bisher hat sie sich um unsere Vorräte und den Verkauf unserer Waren gekümmert. Laurus meint, sie
könnte dir zeigen, wie wir handeln.«
Andrej war nicht ganz sicher, was ihn mehr überraschte: Die Tatsache, dass die Frau, die er für Rasons
Mutter gehalten hatte, dessen Schwester war, oder Laurus’ überraschendes Ansinnen.
»Du musst wissen, was wir brauchen, und wie viele …«
»Das ist mir klar«, unterbrach ihn Andrej. »Aber dieser Vorschlag überrascht mich. Bisher habe ich doch
noch gar nicht entschieden, wie lange ich bei euch bleibe, oder ob überhaupt.
Immerhin kennen wir uns erst seit gestern. Und heute Morgen hatte ich den Eindruck, dass dein Vater uns
lieber gehen als kommen sieht.«
»Laurus ist misstrauisch«, gestand Rason. »Wir haben viel Schlechtes mit Fremden erlebt, das musst du
verstehen.«
»Und du nicht?«
»Ob ich es verstehe oder ob ich misstrauisch bin?« Rason lachte. »Du solltest dich beeilen. Elena ist keine
sehr geduldige Frau. Sie wartet nicht gerne. Schon gar nicht auf einen Mann.«
Andrejs Rolle, die Laurus ihm bei den Verhandlungen zugedacht hatte, beschränkte sich zumindest für
diesen Tag aufs Zuhören.
Sie waren eine gute Weile in scharfem Tempo geritten, um die nächste Stadt zu erreichen, die anders als
Honsen, diese Bezeichnung auch verdiente. Andrej hatte nach dem Namen des Orts gefragt, aber Elena
hatte nur mit einem Lächeln geantwortet; so, wie sie den meisten seiner Fragen nur mit einem Lächeln
oder mit einem Achselzucken begegnete. Auf dem gesamten Weg hatte sie keine zehn Sätze mit ihm
gewechselt, ein Verhalten, das eigentlich dazu angetan gewesen wäre, Andrej zu verärgern. Aber
sonderbarerweise war es mit Elena wie mit ihren Brüdern: Obwohl Andrej so gut wie nichts über sie
wusste, mochte er sie auf Anhieb. So nutzte er die langen Pausen zwischen den immer wieder begonnenen
Gesprächen, um die Zigeunerin aufmerksamer als am Morgen zu mustern. Hätte Rason ihm nicht gesagt,
wer sie war - und warum sollte dieser ihn diesbezüglich belügen? -, hätte er auch jetzt, da er sie im hellen
Tageslicht sah, nicht gewusst, ob er sie für Rasons Schwester oder Mutter halten sollte. Manchmal wirkte
sie wie ein Mädchen, das kaum älter als achtzehn Jahre alt zu sein schien, dann wieder strahlte sie eine
sonderbare Reife aus, etwas, das deutlich mehr Lebenszeit voraussetzte, auch wenn man sie ihr nicht
ansah. Natürlich blieben seine Blicke Elena nicht verborgen. Auch das war etwas, das Andrej in
zunehmendem Maße verwirrte: Er konnte nicht sagen, ob ihr die Musterung, der er sie
immer
unverhohlener unterzog, angenehm, unangenehm oder gar gleichgültig war.
Elenas Schweigsamkeit jedenfalls endete schlagartig, als sie die Stadt erreichten. Mit knappen Worten
hatte sie Andrej angewiesen, stets in ihrer Nähe zu bleiben und zuzuhören -, und es sollte einiges folgen,
was zu sehen und vor allem zu hören sich lohnte. Elena fand zielsicher genau die Händler und Kaufleute,
die sie suchten, und Andrej kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als er die unglaubliche Wandlung
beobachtete, die mit der zierlichen Sinti-Frau vor sich ging. Elena feilschte und handelte, dass es eine
Freude war, ihr dabei zuzusehen. Und Andrej fragte sich zweifelnd, ob er die Rolle des fahrenden
Händlers, in die er seit einiger Zeit geschlüpft war, tatsächlich weiterspielen sollte. Schon bald stapelten
sich auf der Ladefläche ihres Wagens Kisten, Säcke, Beutel und Fässer mit nahezu allem, was drei
Dutzend Menschen und ihre Pferde für eine Woche brauchten.
Jetzt saßen sie in einem kleinen Gasthaus unmittelbar am Marktplatz, und Andrej

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