Der Untergang
so, wie er gehofft hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte auch er überrascht, ja
beinahe fassungslos, dann aber - nach einem trotzigen Blick in Flocks Richtung - verzog er nur abfällig die
Lippen und zischte:
»Eher verfüttere ich mein Korn an die Ratten, als dass ich Euch auch nur ein Gramm davon gebe!«
»Ganz, wie du willst«, sagte Elena. »Ganz, wie du willst, du Narr.« Damit drehte sie sich um, warf wütend
den Kopf in den Nacken und verschwand, hoch aufgerichtet und mit schnellen Schritten, in der
Dunkelheit.
Andrej wollte ihr schon nacheilen, aber Bruder Flock vertrat ihm den Weg und sagte in besänftigendem
Tonfall: »Lass gut sein, Andreas. Im Moment ist vermutlich jedes weitere Wort zu viel.«
Andrej schwieg und blieb unschlüssig stehen.
»Das war nicht das, was ich Euch in der Sonntagsmesse gelehrt habe, Bruder Handmann«, wandte sich
Flock nun an den Müller. Er klang enttäuscht, nicht wirklich wütend, eher ein wenig verbittert.
Doch seine Worte erzielten auch diesmal nicht die Reaktion, auf die er gewartet hatte. Handmann warf
dem Geistlichen einen fast verächtlichen Blick zu und machte Anstalten, wieder in seine Behausung zu
verschwinden. Im letzten Moment jedoch schien er es sich anders überlegt zu haben. »Es ist spät, Bruder
Flock. Wollt Ihr nicht noch hereinkommen und eine Stärkung für den Rückweg zu Euch nehmen?«, fragte
er.
Für eine Sekunde spannten sich die Muskeln an Flocks Hals, und er sah ganz so aus, als wolle er
explodieren. Dann aber beließ er es bei einem knappen Kopfschütteln, auf das der Müller mit einem
ebenso knappen Achselzucken reagierte, bevor er die Tür hinter sich schloss.
»Es tut mir wirklich leid, Andreas«, sagte Flock, nachdem sie eine Weile in unbehaglichem Schweigen
nebeneinander dagestanden hatten. Er seufzte leise. »Ich verstehe das nicht.
Normalerweise sind die Leute hier nicht so. Es sind gute Menschen, das musst du mir glauben.«
Andrej hob nur die Schultern. Er kannte weder die Menschen in dieser Gegend noch Flock gut genug, um
sich ein Urteil zu bilden, und er kannte sich selbst gut genug um zu wissen, dass er dem Geistlichen
gegenüber gewiss nicht unvoreingenommen war. Flock kam ihm wie ein aufrechter Mann vor, aber er trug
das Gewand und sprach die Sprache derjenigen, die ihm alles genommen hatten, was sein Leben
ausgemacht hatte, und denen er weder verzeihen konnte noch wollte. Statt einer Antwort, drehte er sich
um und sah in die Richtung, in der Elena verschwunden war. Es war erst wenige Momente her, aber er
konnte sie trotz seiner scharfen Augen schon nicht mehr sehen. Er vermutete, dass sie in ihrem Zorn
einfach in den Wald hineinmarschiert war.
Vielleicht, dachte er spöttisch, um ein paar Bäume zu treten.
Flock deutete sein Schweigen offensichtlich falsch, denn als er weiter sprach, klang seine Stimme fast
flehend. »Es ist wirklich nicht so, wie es vielleicht aussieht, Andreas.«
Andrej sah ihn ruhig an. »Wie sieht es denn aus?«
»Wie ich schon sagte, die Leute hier sind gute Menschen«, antwortete Flock. »Aber ich kann sie auch ein
wenig verstehen. Nicht, dass ich gutheiße, was Handmann getan hat, aber man muss versuchen, sie zu
verstehen.«
»Warum?«
»Nun, es sind …« Flock rang sichtbar um Worte und wich seinem Blick aus. »…Dinge vorgekommen, als
das Fahrende Volk das letzte Mal hier war.«
»Dinge?«
Der Geistliche druckste einen Moment herum. »Es wurde gestohlen, und es gab einen Kampf, bei dem
einer der Männer aus der Stadt schwer verletzt wurde.« Andrej schnaubte abfällig. »Ich verstehe. Die
Zigeuner sind in der Stadt: Holt die Kinder ins Haus, und nehmt die Wäsche von der Leine!
Das ist es doch, was Ihr sagen wollt, nicht wahr?«
»Nein!«, sagte Flock eine Spur zu hastig und zu laut. »Oder vielleicht doch. Aber nicht so, wie Ihr glaubt.«
»Was glaube ich denn?« Andrej war selbst überrascht über den aggressiven Ton in seiner Stimme. Etwas
hier machte ihn nervös, und es war nicht allein Handmanns Reaktion oder das, was Flock ihm erzählt
hatte.
»Nun, ich … ich bemühe mich stets, Menschen nach dem zu beurteilen, was sie sind und tun, nicht nach
dem, was sie zu sein scheinen und was man über sie sagt«, antwortete der Geistliche, ohne ihn anzusehen,
und es klang wie eine Verteidigung. »Ich weiß, dass manche meiner Schäfchen vielleicht ein wenig zu
rasch mit einem Urteil bei der Hand sind. Aber das letzte Mal war es tatsächlich so, dass Dinge gestohlen
wurden, Vieh verschwand … wie
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