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Der Untergang

Der Untergang

Titel: Der Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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habe ich sie als Segen angesehen
und noch später als Fluch. Sie ist der Grund, aus dem ich in den Orden eingetreten bin.«
Andrej verfügte zwar nicht über diese besondere Gabe, aber er hatte eine Menge anderer Fähigkeiten, die
die Sinne eines normalen Menschen weit in den Schatten stellten, und die es ihm im Allgemeinen ebenso
sicher wie Flock ermöglichten zu sagen, ob sein Gegenüber ihn belog oder nicht. Und zumindest in diesem
Moment hatte er das sichere Gefühl, dass Flock die Wahrheit sprach; wenn er log, dann tat er es entweder
meisterhaft, oder er wusste nicht, dass er log. Behutsam tastete er mit seinen Vampyrsinnen nach dem
Geist des jungen Ordensbruders, aber da war nichts, was nicht da sein sollte. In einem Anflug von
schlechtem Gewissen verscheuchte er den Gedanken: Ein Wesen wie er selbst im Büßergewand? Das war
absurd.
»Und als was nehmt Ihr diese Gabe heute?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht«, gestand Flock. »Manchmal erleichtert sie die Dinge, aber zumeist macht sie alles
schwieriger. Menschen sind nicht für die Wahrheit geboren, Andreas. Wir sind keine wahrhaftigen Wesen,
wir wollen nicht immer die Wahrheit sagen, und wir wollen sie auch nicht immer hören.«
»Und wie kommt Ihr dann auf die Idee, dass ich Euch wahrheitsgemäß antworten würde - selbst wenn Ihr
Recht hättet?«, fragte Andrej.
»Weil ich es wüsste, wenn Ihr lügt«, antwortete Flock einfach.
»Auch wenn Ihr selbst es nicht genau wüsstet. Aber ich merke schon, Ihr wollt meine Frage nicht
beantworten. Bitte verzeiht, dass ich sie überhaupt gestellt habe.« Er ächzte leise und schwankte. »Und
nun, auch wenn es mir sehr peinlich ist …
könnten wir vielleicht noch einmal über Euer Angebot reden, mich den Rest des Weges zu tragen?«

SECHSTES KAPITEL
    Es verging fast eine Stunde bis Andrej - zusammen mit zwei jüngeren Frauen aus dem Lager - Flocks
Wunden gesäubert und so weit versorgt hatte, dass er sich nicht mehr die bange Frage stellen musste, ob
der junge Geistliche den Abend noch erleben würde.
Dennoch waren Flocks Verletzungen schlimmer als erwartet.
Abgesehen von den zwei schweren Kopfwunden und den grässlichen Schnitten im Gesicht hatte der
Priester mindestens zwei gebrochene Finger und ein schlimm verstauchtes Handgelenk. Zudem befanden
sich in seinem rechten Oberschenkel mehr als ein Dutzend schmale, aber sehr tiefe Stichwunden, die
heftig bluteten. Wie durch ein Wunder hatte die Klinge des Jungen die Hauptschlagader nicht durchtrennt,
sodass Flock nicht in Gefahr war zu verbluten. Auch die übrigen Wunden erwiesen sich als schmerzhaft
und schwer - einige würden Wochen brauchen, um zu verheilen -, aber keine von ihnen war für sich
gesehen wirklich lebensgefährlich. Allerdings wagte Andrej nicht, sich auch nur vorzustellen, was passiert
wäre, wären Abu Dun und er auch nur einen Augenblick später am Ort des Geschehens eingetroffen.
Obwohl er sehr vorsichtig gewesen war und ihm die beiden jungen Frauen geschickt zur Hand gegangen
waren, hatte er Flock zusätzliche Schmerzen zugefügt; zwei oder drei Mal so arg, dass der Pater gellend
aufgeschrien hatte und man ihn vermutlich noch im Dorf hatte hören können. Doch als Andrej sich
schließlich von Flocks Lager erhob und ihm riet, nun ein paar Stunden zu schlafen, um wieder zu Kräften
zu kommen, schüttelte der Mann nur heftig den Kopf und versuchte sogar sich aufzurichten.
»Dazu ist keine Zeit«, sagte er. »Ich muss mit dem Oberhaupt dieser Familie sprechen.«
»Mit Laurus?«
»Ich weiß seinen Namen nicht. Wenn er es ist, ja.«
»Ich glaube nicht, dass das eine so gute Idee ist«, sagte Andrej. »Ihr habt eine Menge Blut verloren und
seid schwach.«
»Das mag sein, aber es ist wichtig. Ich werde schon nicht in Ohnmacht fallen.«
»Das meine ich nicht«, sagte Andrej. »Glaubt mir, ich habe Erfahrung in solchen Dingen. Manchmal ist es
besser, in einem Zustand wie Eurem nicht zu reden.«
»Es ist aber wirklich wichtig«, beharrte Flock. »Nicht für mich. Für diese Leute hier. Und vielleicht auch
für Euch, Andreas.«
Andrej resignierte. Flock würde nicht nachgeben, und vielleicht war das, was er zu sagen hatte, ja wirklich
wichtig.
So erhob er sich und sagte: »Ich werde mit ihm reden. Aber ich kann nicht versprechen, dass er überhaupt
mit Euch sprechen will.«
»Richtet ihm aus, es geht um heute Nacht«, sagte Flock.
»Um den Müller und das, was nach Eurem Besuch geschehen ist.«
»Nach unserem Besuch?«, fragte Andrej alarmiert. »Was soll denn

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