Der Untergang
Geistliche lag. In
der gleichen Sekunde wurde Andrej klar, dass er abermals einen Fehler begangen hatte. Der Nubier war
nicht unbedingt für seine Rücksicht bekannt, und in der Stimmung, in der er sich augenblicklich befand,
war es gut möglich, dass er seinen Zorn an Flock ausließ und ihn unsanfter auf den Wagen beförderte als
nötig.
Seine Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Vielleicht hatte Abu Dun seinen kühlen Verstand
zurückerlangt, den Andrej in den letzten Tagen zu oft bei ihm vermisst hatte; vielleicht verbot es ihm aber
auch der Stolz, seine Wut an einem Hilflosen auszulassen: Überaus vorsichtig trug der Araber den
Geistlichen aus dem Zelt, bettete ihn auf die Ladefläche des Wagens und deckte ihn sogar zu, damit die
erbarmungslose Sonne seine geschundene Haut nicht auch noch verbrannte. Andrej ergriff die Zügel und
ließ den Wagen anrollen, sodass Abu Dun gezwungen war, einen kurzen Spurt einzulegen, um dann mit
einer alles andere als eleganten Bewegung zu ihm auf den Bock zu springen - was Andrej einen wütenden
Blick des Nubiers einbrachte.
Und damit war es dann auch gut mit den kleinen Schikanen. In eisigem Schweigen legten sie den Weg in
die Stadt zurück. Und auch Andrejs Enttäuschung, nun doch nicht mehr mit Flock reden zu können,
erwies sich im Nachhinein als grundlos. Der junge Prediger verlor zwar nicht das Bewusstsein, versank
aber in einen Dämmerzustand, in dem er bisweilen den Kopf hin und her warf und unverständliche Worte
stammelte. Als die ersten Häuser der Stadt in Sichtweite kamen, brachte Andrej den Wagen zum Stehen,
reichte die Zügel wortlos an Abu Dun weiter und stieg nach hinten auf die Ladefläche, um Flock sanft
wachzurütteln Er brauchte eine Weile, um den Geistlichen aus seinem Fieberwahn zu reißen. »Wir sind
fast da«, sagte er. »Wie geht es Euch?«
Flock blinzelte. Seine Augen waren trüb, und jetzt, wo das Blut von seinem Gesicht gewaschen und die
schlimmsten Wunden versorgt waren, sah er fast noch schrecklicher aus. Und dieser Anblick ist nichts
gegen den, den er morgen oder gar in zwei oder drei Tagen bieten wird, dachte Andrej schaudernd. Die
kreuzförmigen Schnitte auf Flocks Wangen waren dick angeschwollen und begannen sich offensichtlich
zu entzünden.
Er fieberte stark, und als Andrej nach seinem Handgelenk griff, registrierte er erschrocken, wie schnell
sein Puls ging.
Trotzdem schüttelte Flock auf seine Frage hin den Kopf und setzte sich mühsam auf. »Es geht«, sagte er.
»Ihr und Euer Freund habt gut für mich gesorgt.«
»Glaubt Ihr, Ihr schafft den Rest des Weges allein?«, fragte Andrej. Bevor Flock antwortete, drehte er
mühsam den Kopf und fuhr sich mit seiner dick bandagierten Linken über die Augen, als könne er nicht
klar sehen. Schließlich nickte er, aber es wirkte nicht besonders überzeugend. Vielleicht war Abu Duns
Idee, so einleuchtend sie im ersten Moment geklungen hatte, doch nicht so gut gewesen. Wenn sie den
schwer verwundeten Geistlichen persönlich in die Stadt brachten, würden sie eine Menge unangenehmer
Fragen beantworten müssen - bestenfalls.
Aber es war auch keinen Deut besser, ihn allein auf den Kutschbock zu setzen, wenn die Pferde hernach
erst am Ende der Stadt zum Stehen kamen, weil die Zügel in den Händen eines Toten lagen.
»Vielleicht sollten wir Euch doch bis in die Stadt begleiten«, sagte er.
Diesmal wirkte Flocks Kopfschütteln fast panisch, und es kam auch deutlich schneller. »Nein!«, sagte er.
»Macht Euch keine Sorgen. Ich werde allen erklären, was passiert ist. Aber im Augenblick ist es besser,
wenn Ihr nicht in meiner Nähe seid.«
So unwohl sich Andrej dabei fühlte, er musste zugeben, dass Flock Recht hatte. Während Abu Dun bereits
vom Wagen sprang und nach hinten eilte, um ihre Pferde loszubinden, half er Flock, sich umständlich
aufzurichten und noch umständlicher auf den Kutschbock zu klettern. Die Hände des Geistlichen waren so
dick bandagiert und angeschwollen, dass er Mühe hatte, die Zügel zu halten, und Andrej kamen erneut
Zweifel an ihrem Vorhaben. Aber Flock ließ die Pferde antraben, noch bevor Andrej eine entsprechende
Bemerkung machen konnte. Langsam setzte sich der Wagen in Bewegung.
Obwohl die Straße hier bereits gut gepflastert war, schwankte der Priester auf dem ungepolsterten
Kutschbock heftig hin und her. Andrej trat einen Schritt zurück und blieb dann reglos am Straßenrand
stehen, bis sich das Fuhrwerk den ersten Häusern näherte. Erst, als er ganz sicher war,
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