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Der Untergang

Der Untergang

Titel: Der Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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lenkte, Hauptsache, nur nicht auf das Lager der Sinti. »Diese
Leute, Andreas«, begann der Geistliche schließlich.
»Wie gut kennt Ihr sie?«
Andrej trat einen halben Schritt zurück, sodass Flocks Hand von seiner Schulter rutschte, hielt den Arm
jedoch ausgestreckt, falls der Geistliche zu stürzen drohte. Seine Augen wurden schmal. »Warum fragt Ihr
mich das?«, wollte er wissen und schnitt Flock mit einer Handbewegung das Wort ab, bevor dieser
antworten konnte. »Ihr erzählt mir, dass Ihr Euch an das Lager angeschlichen habt, um diese Menschen zu
belauschen, und wollt nun von mir etwas über sie erfahren?«
»Wie gut kennt Ihr sie?«, wiederholte Flock. »Immerhin besser als Euch«, antwortete Andrej. »Nicht
besonders gut.
Aber gut genug, um zu wissen, dass sie Abu Dun und mich aufgenommen haben, ohne Fragen zu stellen,
dass sie freundlich zu uns sind, und dass sie niemandem ein Leid zugefügt haben, jedenfalls nicht, solange
ich bei ihnen bin.« Es fiel ihm schwer, Ruhe zu bewahren. Flocks Worte machten ihn wütend. Er
schuldete diesem Mann nichts. Die Kirche, in deren Diensten er stand, hatte seine Familie ausgelöscht,
jeden getötet, den er gekannt, alles vernichtet, was er besessen und geliebt hatte. Und niemand an seiner
Stelle wäre wohl in der Lage gewesen, einem Mann, der das Büßergewand trug, unvoreingenommen
gegenüberzutreten. Aber Flocks Worte weckten nicht nur Zorn in ihm, sondern ein Gefühl, das an Hass
grenzte. Er verstand selbst nicht, warum.
»Ihr und Euer Freund seid anders als diese Leute«, sagte Flock. Er schwankte leicht, und Andrej war mit
einem raschen Schritt wieder bei ihm, als ihm klar wurde, dass Flock die Kräfte jetzt immer schneller
verließen.
Vielleicht war es ein Fehler. Mit einem Mal war er dem Geistlichen so nahe, dass er nicht nur seinen
sauren Schweiß und die Angst riechen konnte, sondern auch das Blut, das noch immer aus den beiden
Platzwunden an seinem Kopf sickerte und auch den groben Stoff seiner Kutte über dem rechten
Oberschenkel tränkte. Ein bitterer, metallischer Geruch, der ihn an unzählige überstandene Kämpfe und
Schlachten erinnerte, der aber auch etwas anderes in ihm wach rief; eine uralte, unstillbare Gier, der
düstere Teil seines Erbes, den zu ergründen er hierher gekommen war, und den er so tief in den finstersten
Abgründen seiner Seele eingesperrt zu haben geglaubt hatte, dass er ihn manchmal schon zu vergessen
begann. Aber er war da, nicht sehr stark, nicht einmal verlockend, aber er war da, und er würde immer da
sein.
Andrej vertrieb den Gedanken hastig und fragte lauter und - wie er hoffte - in sachlicherem Ton: »Was
wollt Ihr von mir, Pfaffe?«
Wenn Flock die Beleidigung überhaupt gehört hatte, so ignorierte er sie. »Vielleicht will ich nur wissen,
mit wem ich es zu tun habe«, antwortete er. »Ihr seid nicht der Mann, der zu sein Ihr vorgebt, Andreas.
Euch umgibt ein Geheimnis. Ein großes und düsteres Geheimnis.«
»Ach?«, fragte Andrej spöttisch. »Ist das so? Nun, viel leicht habt Ihr Recht, vielleicht redet ihr aber auch
Unsinn.
Und selbst, wenn Ihr Recht haben solltet - wer sagt Euch, dass es ein Geheimnis ist, das Ihr kennen wollt?
Vielleicht sind Abu Dun und ich ja Späher der Türken, die ausgeschickt wurden, um einen Überfall der
Muselmanen vorzubereiten.
Oder wir sind gemeine Mörder und Diebe, die auf der Suche nach neuen Opfern sind. Oder auch
Dämonen, die Euch und allen braven Bürgern in dieser Gegend nach der Seele trachten?
Flock blieb ernst. Er sah Andrej einen Moment lang durch dringend, aber auf so sonderbare Weise an,
dass ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. »Ihr seid kein schlechter Mensch, Andreas«, sagte er.
»Ich weiß nicht, was Ihr seid, geschweige denn, wer, aber Ihr seid nicht böse.«
»Woher wollt Ihr das wissen?«
»Weil ich in die Seelen der Menschen blicken kann«, erwiderte Flock. »Ich weiß, ob mich ein Mensch
belügt oder ob er die Wahrheit sagt, ob er gut oder schlecht ist. Und Ihr seid nicht schlecht.«
»Oh, das wisst Ihr?«, fragte Andrej spöttisch. »Sagt, lernt man das bei der Priesterweihe, oder erhält man
diese Fähigkeit zwangsläufig, sobald man erstmals die Kutte überstreift?«
Flock schüttelte matt den Kopf. Er wirkte nicht verletzt, sondern nur ein wenig traurig. »Das war nicht nur
so dahergesagt, Andreas«, sagte er. »Ich kann in die Seelen der Menschen blicken. Ich konnte es schon
immer, bereits als Kind. Früher hat mich diese Fähigkeit verwirrt, später

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